Tuchfuehlung
Dann muss er allein sein. Dann will er niemanden sehen. Auch mich nicht.
Silvester.
Ein Fest mit seinen Freunden. Bei uns.
Ich biete meine Kochkünste an. Zwölf Leute kann ich leicht begeistern.
Aber Martin M. will nicht, dass ich den letzten Tag des Jahres in der Küche verbringe. Er bestellt ein Büfett im Hotel Ambassador.
Den Tag verbringen wir auf der Piste. Martin M. im schwar zen Overall, wedelt leicht und elegant durch den weißen Schnee. Bewundernde Blicke streifen ihn. Ich habe etwas Mühe, ihm zu folgen. Bin froh, dass er nicht sieht, wie ich mich zwischendurch mühen muss, ihn nicht zu verlieren.
Glühwein auf 3000 Meter. Im Liegestuhl mit Sonnencreme. Hinter der runden schwarzen Sonnenbrille von Zeit zu Zeit ein Blick ... für mich.
Der Himmel im dunkelsten Blau. Die Luft frisch und kühl. Die Sonne heiß. Mein Herz glüht. Mein Körper vibriert vor Freude.
Ich bade in meinem Glück.
Dann der Abend.
Kellner in langen weißen Schürzen balancieren silberne Tabletts, Terrinen und Schüsseln ohne Ende.
Ich bin froh, dass ich ihnen zugucken kann, dass ich mich gleich bedienen kann. Für ein Büfett wie dieses hätte ich Tage gebraucht. Und hätte es vielleicht doch nicht geschafft.
Acht Männer, vier Frauen. Zwischen 35 und 50. So alt wie meine Eltern. Trotzdem fühle ich mich wohl. Sie sind ungewöhnlich nett zu mir. Fürsorglich. Mutter- und Vaterinstink te? Die Gespräche drehen sich um Kunst, Literatur und Thea ter. Ich hab von alldem keine Ahnung. Aber ich muss nicht im Boden versinken. Ich bin noch jung, ich muss noch keine Karriere vorweisen. Ich darf so sein, wie ich bin.
« Du hast noch alles vor dir, Zeno!»
«Dir steht noch die ganze Welt offen!»
« Beneidenswert!»
«Ja, so jung!»
«Und so schön!»
Was hier beziehungsmäßig läuft, weiß ich immer noch nicht, obwohl ich die Leute schon seit Tagen kenne. Paare kann ich nicht identifizieren. Wer gehört zu wem? Jeder zu jedem? Keiner zu niemandem? Jeder für sich allein? Ich hab keine Ahnung. Sie sind alle irgendwie befreundet. Aber das Irgendwie ist alles andere als klar.
Die Stimmung heiter. Das Büfett vorzüglich, der Champag ner teuer. Tarotkarten und Horoskope prophezeien die Zukunft. Beate liest aus der Hand. Bert spielt Saxophon, Julian singt Chansons in Frauenkleidern. Ralf zaubert ein weißes Kaninchen aus einem Zylinder.
Und Martin M.?
Ich wünsche mir seine Nähe. Am liebsten säße ich Hand in Hand mit ihm auf dem schwarzen Ledersofa. Am liebsten würde ich jetzt meinen Kopf an seine Schulter lehnen. Das vergangene Jahr war schließlich hart.
Aber Martin M. hat ganz andere Bedürfnisse. Er ist mal hier, mal da. Mal legt er der schönen Helga den Arm um die Schulter, aber meistens dem schönen Klaus. Er legt sich nicht fest. Begreif das endlich, Zeno Zimmermann. Keine Bezie hung! Martin M. mag das nicht. Nur nicht klammern!
Sein Blick streift mich an diesem Abend kaum. Zwischendurch verliere ich ihn aus den Augen. Langsam schleicht sich Panik an, ich könnte Amok laufen. Aber noch kann ich mich kontrollieren. Als Trost der Busen von Irene, der dicken Sopranistin? Nein, das ist der falsche.
Um zwölf darf der kleine Zeno die Raketen zünden. Eine ganze Kiste voll. Dabei hasst der kleine Zeno nichts so sehr wie die Silvesterknallerei. Und auch der große Zeno möchte keine Raketen anzünden. Der große Zeno möchte jetzt mit Martin M. auf das neue Jahr anstoßen. Am liebsten nur mit ihm, ganz allein.
Aber Martin M. ist weit. Martin M. stößt jetzt mit dem schönen Klaus an und küsst ihn dabei auf den Mund. Ich zähle bis zehn. Sie küssen sich immer noch. Mein Herz stolpert, knallt auf den Boden, zerspringt in tausend Stücke ...
Ralf und Bert freuen sich, dass ich ihnen die Raketen über lasse.
Ich kann mich über die hunderttausend bunten Sterne, die jetzt am Himmel zerplatzen, nicht mehr freuen. Martin M. steht auf der Terrasse, den schönen Klaus im Arm, lehnt sei nen Kopf an seine Schulter.
Dann irgendwann ziehen sie ihre Jacken an und verlassen das Haus.
Kein «Gutes neues Jahr!», für Zeno Zimmermann!
Ich bade nicht mehr im Glück. Ich bade im Champagner. Ich kann heute nichts anderes mehr tun als mich besaufen.
Heute fährt kein Zug mehr nach Amsterdam.
Aber morgen!
Da pack ich meine Sachen.
Zum Glück hab ich ihre Adresse eingepackt.
Langsam werde ich ruhiger. Der Alkohol gibt mir Schutz, hüllt mich ein. Ich liege in Irenes weichen Armen. Sie hält mich fest. Sie
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