Tuermer - Roman
mußte, Heinrich Moritz Köhler, erschossen auf dem Stadtfriedhof aufgefunden.
Einleben
Unsere Wohnung begann in achtunddreißig Metern Höhe. Sie endete bei einundfünfzig Metern und war damit insgesamt dreizehn Meter hoch und sechs Meter im Durchmesser. Ich überlegte, ob ich die Räume nach der Höhe, in der sie sich befanden, nennen sollte. Küche: siebenundvierzig Meter. Schlafzimmer: vierundvierzig Meter. Abtritt: achtunddreißig Meter.
Ich überlegte, wie wir hier leben würden. Die Küche war eigentlich nur ein Treppenabsatz. Der Ofen stand neben der Tür zum Turmumgang, zur Treppe hin gab es keine Tür, so daß der Raum sich nicht aufheizen konnte. Warm würde es nur in der Nähe des Ofens sein. Es gab noch einen zweiten Ofen in der Stube, aber ich kannte die Sparsamkeit meiner Mutter. Wir würden alle zusammen in dem einen beheizten Zimmer beieinander sitzen müssen oder frieren. Doch vor uns lag endlos der Sommer. Von der Küche gelangte man in die Stube. In ihr hatten außer dem kleinen Ofen nur ein schmaler, langer Tisch und ein paar Stühle Platz. Der Raum war nirgends breiter als zwei Meter. Dafür gab es in der halbrunden Wand drei nach Westen gehende Fenster. Durch die Stube wiederum kam man in ein weiteres Zimmer. Ich richtete es in Gedanken mit den Sachen ein, für die sonst kein Platz war: Mutters Nähtischchen mit den gehäkelten Decken und Trockenblumen, von denen sie den Staub blies, der sich dann als feine Schicht auf das Tischchen legte. Mutter konnte fast nicht nähen, aber dieses Tischchen hütete sie wie einen Vorsatz. Bilder an den beiden nicht gekrümmten Wänden und Gardinen am Fenster, zart wie Schleier: Mutters Brautkleid. Auf dem Wandregal die Bücher:
Die gute Küche
,
Der Arzt im Hause
,
Der Obstbaumschnitt
,
Das Carillon
. Vielleicht hatten Vater und Mutter sich einmal darauf geeinigt, daß jeder zwei Bücher haben dürfe. Zu einer Zeit, als sie noch über diese Dinge stritten. Vielleicht war es so: Als sie sich kennenlernten, brachte Mutter ein Buch mit.
Der Arzt im Hause.
Sie hatte sich das alles vorgestellt. Sie wollte gut beginnen. Und jung war sie. Den sie heiratete, der hatte auch ein Buch. Nicht wahr, das spricht doch für ihn.
Das Carillon
. Man muß einander nicht ganz verstehen, es reicht, wenn man gut zueinander ist. Aber dann, vielleicht, war es anders gekommen, dann kamen schwere Zeiten, solche, durch die man nicht zusammenwächst. Und als beide ratlos nebeneinander lebten, kaufte Mutter ein neues Buch:
Die gute Küche
. Und auch Vater ging seiner Wege: er lehnte den Buchdeckel des
Obstbaumschnitts
an Mutters Bücher. Sie teilten sich ein Regal, Rücken neben Rücken.
Ging man die hölzerne Wendeltreppe vom Küchenofen nach unten, gelangte man zum Schlafzimmer der Eltern und zu meinem Zimmer. Daran grenzte der Raum, in dem sich das Uhrwerk befand. Ich legte mich auf mein Bett und hörte durch die dünne Wand das Geräusch des Ineinandergreifens der Zahnräder. Das langsame, zeitfressende des Walzenrades und den schnellen, mühelosen Gang des Ankerrads. Langsam fand ich mich in ihren Takt und wie eine anhaltende Erschütterung spürte ich durch den dünnen Bretterboden den schwindelig machenden Unterschied zwischen den kleinen Bewegungen, mit denen die Pendel an der Halterung angetrieben wurden, und der Wucht, mit der sie vier Meter tiefer im Pendelschrank ausschwangen.
Mensuren
Die Welt hat zwei Hälften. Eine Hälfte ist die Stadt, die andere der Himmel. Die Stadt, das sind die Menschen. Auf den Straßen gehen die Gedanken und kreuzen sich. Aus jedem Fenster gehen sie ins Leere. Der Himmel, das ist eine Anzahl von Geraden, die sich nicht schneiden, der Himmel ist ohne Grenze, und kein Mensch kann in ihm bleiben. Der Turm ist ein Käfig. Er ist in den Himmel gebaut und nimmt sich ein Stück Raum, ein Stück für mich, ein Stück, in dem meine Zeit vergeht. Die Stadt und der Himmel sind die zwei Mensuren der Sanduhr. Ich bin der schmale Durchgang. Durch mich rinnt die Unbegrenztheit in die Straßen und Häuser, durch mich rinnen die Gedanken ins Raumlose. Wenn die Zeit abgelaufen ist, wenn die Uhren umgedreht werden, wartet in der oberen Mensur der leere Raum darauf, sich zu füllen mit dem Sand, der in die untere Mensur gerieselt ist: Festigkeit, kristallines Gefühl. Ich bin der Durchgang, ich bin die Zeit.
Dachstuhl
Der Dachstuhl erschien mir seit meinen ersten Tagen hier oben wie ein Modell der Welt, eine Schule der Perspektiven. Ich selbst fühlte mich als
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