Turm der Lügen
Unter diesen Umständen fiel es ihr jedoch zunehmend schwerer.
»Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen«, warnte Odette.
Mahaut empfand kein Mitgefühl für ihre Kammerfrau. Gebären war Frauenpflicht, die Folgen davon Frauenschicksal. Indem Lise die Frau des Bogenschützen Loup Gasnay geworden war, hatte sie dieses Los auf sich genommen. Loup gehörte zu Hugecs Männern. Wenn er zum Problem werden sollte, würde Hugec wie üblich zur Stelle sein. Sie hatte gelernt, sich auf ihn zu verlassen.
»Flavy?« Die Wehe überfiel Mahaut mit solcher Wucht, dass sie nur die beiden Silben über die Lippen brachte.
»Keine Sorge, der Baron weiß Bescheid.«
Odette ahnte, was in ihr vorging. Sie war Mahauts Amme gewesen und bis zum heutigen Tage in ihren Diensten geblieben. Niemand wusste besser als sie, was die Frau antrieb, die mit purer Willenskraft das eigene Los gestalten wollte.
»Der Seigneur von Flavy hat die Wache vor deiner Tür übernommen. Und was Lise angeht, sie schläft. Ich habe ihr Mohnsaft gegeben, damit sie Ruhe findet.«
Das Drängen in ihrem Leib entlockte Mahaut einen unterdrückten Schrei.
»Es beginnt, Odette. Heilige Mutter Gottes, steh mir bei! Habe Erbarmen mit mir. Schenke mir den Sohn, den mein Gemahl von mir fordert!«
Es klang mehr nach Befehl als nach Gebet. Odette bekreuzigte sich fromm.
»Schscht! Man erteilt den himmlischen Mächten keine Befehle.«
* * *
Das Kind schlief. Bis zur Nasenspitze in feinstes Leinen gehüllt, ruhte es in Mahauts Arm. In ihren Augen funkelte Triumph. Aufrecht gegen die Kissen des Alkovens gestützt, empfing sie ihre Besucher.
Hugec ließ dem Burghauptmann den Vortritt. Der Graubart schwankte erkennbar zwischen Bestürzung und Ehrerbietung. Die Tatsache, dass die Pfalzgräfin von Burgund ausgerechnet in seiner Festung einem Kind das Leben geschenkt hatte, versetzte ihn nachträglich in Angst und Schrecken. Wieso hatte er erst davon erfahren, als alles schon vorbei war?
»Dem Himmel sei Dank, dass Ihr diese Geburt ohne Schaden hinter Euch gebracht habt. Ich wage nicht zu denken … Ihr hättet doch … Wieso habt Ihr nichts gesagt?«, rang er um Worte.
Ohne dass Mahaut eine Miene verzog, schien die Atmosphäre im Raum spürbar kühler zu werden. Dem Burghauptmann stieg das Blut zu Kopf. Zu spät biss er sich auf die Zunge. Man machte der Pfalzgräfin von Burgund keine Vorwürfe.
»Habt Dank für Eure guten Wünsche und Eure Gastfreundschaft«, erwiderte sie gelassen. »Seid gewiss, dass wir sie nicht über Gebühr beanspruchen werden. Mein Gemahl wird nicht versäumen, Euch dafür zu belohnen, dass sein Sohn und Erbe unter dem Dach von Dourdan zur Welt gekommen ist.«
Sie ließ seine verspäteten Beteuerungen über sich ergehen, ehe sie ihn mit der Versicherung, dass es ihr wohl erginge und dass sie ihm nicht gram sei, wenn er unverzüglich zu seinen Aufgaben zurückkehre, entließ. Odette geleitete ihn aus der Kammer.
Hugec blieb im Raum. Er wartete und beobachtete die junge Mutter und den Säugling. Mahaut ließ die Augen nicht von ihrem Sohn. Die Eindringlichkeit ihres Blickes bewies ihm, dass die Strapazen der Geburt für sie bereits der Vergangenheit angehörten. Im Gesicht des Kindes suchte sie die Zukunft.
Würde der winzige Knabe ihre Erwartungen erfüllen?
Es lag fünfzehn Jahre zurück, seit ihm Dame Amicia seinen Sohn Adrien geschenkt hatte. Aber er erinnerte sich an ein schreiendes Neugeborenes, dessen Finger die seinen kraftvoll umklammerten. Dieses Wickelkind hingegen war so bleich und steif wie die Stoffbinden, die seinen Körper gerade hielten.
»Ist er wohlauf? Gesund?«, rutschte es ihm heraus.
»Ich nähre ihn selbst«, antwortete Mahaut ebenso freimütig wie bestimmt. »Meine Kraft und mein Blut werden ausgleichen, was bei der überstürzten Geburt an Schaden geschah.«
»Dann ist es nicht vonnöten, eine Nährmutter in Dourdan zu suchen?«
»Nicht für mich, Flavy. Aber meine Kammerfrau, die, wie Ihr wisst, ebenfalls vor drei Tagen niedergekommen ist, leidet am Kindbettfieber. Ich sorge mich um sie. Ihre … Tochter soll keine Not leiden.«
Das unmerkliche Zögern traf Hugec wie ein Schwertstreich. Es genügte, die Vermutungen in Gewissheit zu verwandeln. Seit Mahaut so kurz vor der Geburt ihres Kindes darauf bestanden hatte, dass es in Paris zur Welt kommen sollte, ahnte er, was sie im Schilde führte. Seitdem lag er im Kampf mit dem eigenen Gewissen. Er bewunderte die Pfalzgräfin und hatte sich freiwillig in ihre
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