Turm der Lügen
Mahaut von Artois für sich einzunehmen und zu ehelichen.
»Hoch mit dir, Loup.«
Ohne sich um die Folgen zu kümmern, kippte Adrien den Rest aus der Weinkanne über dem Gesicht des Schlafenden aus.
Mit einem Wutschrei schoss Gasnay hoch und sank, die Hände jammernd vor die Augen gepresst, sogleich wieder zurück.
»Seigneur«, krächzte er kaum verständlich. »Habt ein Einsehen mit mir. Das Licht tut meinen Augen weh.«
»Dir tut gleich weit mehr weh, wenn du nicht unverzüglich auf die Beine kommst, du versoffenes Wrack.«
Bei Hofe hatte Adrien seinen schneidenden Tonfall vervollkommnet. Die vor der Brust verschränkten Arme und sein eisiger Blick taten ein Übriges. Loup sah den Baron vor sich, zu dessen besten Männern er einmal gezählt hatte. Er hatte dem Sohn die blauen Augen und das Selbstbewusstsein vererbt.
Ächzend rappelte Loup sich in eine sitzende Haltung und versuchte so, auf die Beine zu kommen. Er schwankte wie ein Kranker und rieb sich den nassen Bart.
»Wir müssen reden«, begann Adrien kalt. »Reiß dich zusammen. Es müssen Entscheidungen über Séverines Zukunft getroffen werden. Wieso hast du dich nicht besser um das Mädchen gekümmert? Ich nahm an, ich würde eine wohlerzogene Jungfer vorfinden, und was wartet auf mich? Ein halber Stallknecht. Eine Küchenmagd. Ein Kobold ohne jede Erziehung. Ein Kind, das nicht die geringste Ahnung von den Pflichten einer künftigen Ehefrau und Mutter hat.«
»Was geht’s mich an.« Loup fluchte heiser. »Ich hab nichts mit dem Weibsstück zu schaffen, und ich will nichts von ihr hören.«
»Hast du den Verstand verloren, Loup Gasnay? In den Augen der Welt ist Séverine deine Tochter. Was glaubst du, warum du auf Faucheville lebst wie die Made im Speck? Du bist hier, damit Séverine in Ehren aufwachsen kann. Damit kein Makel auf ihren Namen fällt.«
»Sie ist eine Mörderin«, schrie Loup so wütend, dass seine Stimme kippte. »Sie hat den Tod meines Sohnes auf dem Gewissen. Hätt’ ich ihn behalten dürfen, er wäre noch am Leben. Er wäre der Trost meines Alters, die Freude meiner Augen.«
»Du weißt nicht, was du da redest, Loup. Du bist nicht nüchtern.« Erschrocken blickte Adrien zum Fenster. Hatte Loups Ausbruch Ohrenzeugen? Er sprach Dinge laut aus, die er selbst bisher nur zu denken gewagt hatte. »Beruhige dich, Mann.«
Besänftigend auf ihn einredend, begriff Adrien, dass es sinnlos war, wenn nicht sogar gefährlich, Loup mit Vorwürfen an seine Verantwortung zu erinnern. Ohnehin nicht der Hellste, war längst auch der Rest seines Verstandes dem Wein zum Opfer gefallen.
Der kurze Anflug von Energie, der ihn auf die Beine gebracht hatte, ging vorüber. Er sackte in sich zusammen, begann zu jammern, schließlich zu greinen und wie ein Schwachsinniger nach dem Sohn zu rufen, den er in seinem beschränkten Geist zum Ziel aller Hoffnungen machte. Unter Druck würde er das Geheimgehaltene, von dem er wusste, schneller ausplaudern, als ihnen allen lieb sein konnte. Es musste ohne ihn einen Weg geben, Séverine zu helfen.
Adrien rief nach einer Magd und ließ sie Loups Weinkanne füllen. Er goss einen Becher ein.
»Trink«, befahl er knapp.
Loup zitterte mittlerweile so sehr, dass Adrien ihm den Becher führen musste. Er stürzte hastig und gurgelnd den Inhalt hinunter. Nach dem zweiten Becher wurde das Zittern schwächer. Adrien betrachtete ihn aufmerksam. Er kannte Schwächlinge wie ihn. Sie suchten Vergessen in Wein oder Bier. Wenn man ihm nicht Einhalt gebot, würde er sich freiwillig zu Tode saufen. Vielleicht wäre das für sie alle die beste Lösung, auch wenn es seine Pläne über den Haufen werfen würde, dachte Adrien. Er verließ ihn in der Gewissheit, dass er nichts mehr ändern konnte.
Abgestoßen und gleichzeitig schuldbewusst erinnerte sich Adrien an Loup, den kräftigen Soldaten, der vor fast sechzehn Jahren nach Faucheville gekommen war. In tiefer Trauer um die Mutter seines Kindes hatte er sich dem Willen der skrupellosen Mahaut gebeugt, künftig in Faucheville zu leben. Wahrscheinlich konnte er nur so sein Leben retten.
Die schreckliche Mahaut. Alle Welt nannte sie hinter ihrem Rücken so. Sie stammte väterlicherseits von König Louis dem Heiligen ab und war mit Othon, dem Pfalzgrafen von Burgund, verheiratet worden. Nach der Geburt zweier Töchter war der langersehnte Sohn und Erbe in Dourdan zur Welt gekommen.
Von wenigen Getreuen umsorgt – Adriens Vater war einer von ihnen gewesen – brachte sie das
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