Tyrann Aus Der Tiefe
Die Männer und Frauen, die mir begegneten, erschienen mir vollkommen normal, und die verwunderten – und zum Teil eindeutig feindseligen – Blicke, die sie mir zuwarfen, galten wohl mehr meiner zerrissenen und verdreckten Kleidung als mir selbst.
Und trotzdem … diese Stadt barg ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das auf eine Weise, die ich jetzt noch nicht zu benennen im Stande war, mit O’Banyon und seinem toten Kameraden zusammenhing.
Ich erreichte die Bank, betrat die Schalterhalle und sah mich einen Moment neugierig um. Ich war der einzige Kunde, und dem überraschten Blick des Kassierers hinter dem Schalter nach zu urteilen, hatte er zu dieser Zeit wohl nicht einmal damit gerechnet.
Der Ausdruck von Schrecken in seinem Blick wandelte sich in Überraschung, Herablassung und Unsicherheit (in dieser Reihenfolge) und pendelte sich irgendwo in der Mitte ein, als ich mich mit gemessenen Schritten dem Schalter näherte und vor ihm stehen blieb. Unwillkürlich wich der Mann einen Schritt von seinem Tresen zurück, und ich unterdrückte im letzten Moment ein amüsiertes Lachen. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass ich ihn anbetteln würde – oder die Bank überfallen –, und wahrscheinlich überlegte er schon fieberhaft, wie er mit beiden Eventualitäten am elegantesten fertig werden könnte.
Ich konnte ihm seine Gefühle nicht einmal übel nehmen, bedachte man mein Aussehen. Mein Anzug war zwar in den letzten vierundzwanzig Stunden getrocknet, aber er sah eben auch aus wie ein Anzug, mit dem man ins Wasser gefallen, mitten durch ein Felsenriff geschleudert und schließlich ein paar Dutzend Schritte weit einen Sandstrand hinaufgezerrt worden ist. Und auch mein Gesicht und mein Haar hätten ein erneutes Zusammentreffen mit Wasser dringend nötig gehabt.
Ich sah den Kassierer einen Moment lang durchdringend an, legte mit einer betont langsamen Geste die schwarze Aktenmappe, die Andara als einziges Stück seiner Ausrüstung aus dem sinkenden Schiff gerettet hatte, vor mich auf den Schalter, und öffnete die Verschlüsse. Der Kassierer erbleichte ein ganz kleines bisschen mehr. Sein Blick saugte sich an der Tasche fest. Wahrscheinlich überlegte er, welche Art von Waffe ich darin verborgen haben konnte.
»Womit … kann ich Ihnen dienen, Sir?«, fragte er stockend. Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. An seinem Hals pochte eine Ader im Rhythmus seiner Herzschläge.
»Mit Geld«, antwortete ich lächelnd. Der arme Bursche wurde noch blasser und sah sich jetzt ganz unverhohlen nach einem Fluchtweg um. Aber er schien unfähig, sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu rühren.
Langsam öffnete ich die Tasche, nahm den Stapel Kreditbriefe hervor, der in wasserdichtes Öltuch eingeschlagen darin verborgen war, und suchte die drei heraus, die auf meinen Namen ausgestellt worden waren. Zwei von ihnen lauteten über fünftausend Pfund, der dritte über fünfhundert. Mein Vater musste vorausgesehen haben, dass ich an eine Bank geraten könnte, die vor einer Forderung über fünftausend Pfund Sterling glatt kapitulierte.
Ich schob ihm den Kreditbrief über die Theke, wickelte die anderen sorgfältig wieder ein und verschloss die Mappe. Der Kassierer griff mit zitternden Fingern nach dem Papier, warf einen flüchtigen Blick darauf und starrte dann mich wieder an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war unbeschreiblich. Ich genoss den Augenblick in vollen Zügen.
»Das … äh …«
»Ist etwas damit nicht in Ordnung?«, fragte ich betont freundlich. »Ich kann mich ausweisen, wenn es Ihnen darum geht.«
»Na … natürlich nicht, Sir«, antwortete der Kassierer. »Es ist nur …«
»Ich sehe nicht aus wie jemand, der solche Kreditbriefe mit sich herumträgt, ich weiß«, seufzte ich. »Aber vermutlich hätte ich sie nicht mehr lange, wenn man es mir ansähe.« Ich zog meine Brieftasche, reichte ihm meinen Pass und wartete, bis er den Namen darin mit dem in dem Kreditbrief verglichen hatte.
»Wie … möchten Sie das Geld, Sir?«, fragte er, noch immer stockend und unsicher, wenn auch jetzt sichtlich aus anderen Gründen.
»Klein«, antwortete ich. »Ich muss ein paar Besorgungen machen. Einen neuen Anzug zum Beispiel. Können Sie mir einen guten Schneider hier in der Nähe empfehlen?«
Der Kassierer schüttelte den Kopf, während er bereits damit begann, Ein- und Fünf-Pfund-Noten in sauberen kleinen Stapeln vor mir abzuzählen. »Ich fürchte, mit einem Schneider kann Goldspie nicht aufwarten,
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