Über Bord
aus einer völlig anderen Quelle. Mein honetter Bruder Gerd soll eine sehr junge Freundin haben, die er seinem Sohn ausgespannt hat. Zufällig war nämlich ein Klassenkamerad von mir bei der Trauerfeier, ein Kollege von Gerd, der ihm offenbar nicht wohlgesinnt ist. Konkurrenzneid nehme ich an, das Gerücht muss also nicht stimmen. Auf jeden Fall finde ich es besonders taktlos, bei einem solchen Anlass damit herauszurücken.«
Ellens Verdacht hatte sich also bestätigt. Das alles war Grund genug, die Akte Gerd zu schließen und nicht mehr am Leichenschmaus teilzunehmen.
»Könntest du mich bei euch zu Hause absetzen«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Ich habe starke Kopfschmerzen und muss mich kurz hinlegen. Und dann fahre ich lieber nach Hause zurück.«
Auf der Rückfahrt war Ellen sehr zufrieden mit sich und ihrer großherzigen Geste, ja sie freute sich fast wieder auf ihr normales Leben. Zwar wusste sie genau, was in den nächsten Jahren auf sie zukam: monotone Arbeit, ein undichtes Dach, Geldsorgen, eine immer gebrechlichere Mutter, Töchter mit unpassenden Freunden, nachbarlicher Spott über das Nonnenhaus und keine Aussicht auf einen treusorgenden Partner. Wie ihre Mutter würde sie mit der Zeit zu einer männerfeindlichen alten Frau werden.
Trotzdem war sie im Augenblick geradezu glücklich, nur schade, dass sie kein Publikum von ihrer neuen Rolle überzeugen durfte. Sie war zwar nicht auf der Bühne, dafür aber im wahren Leben zur Heldin geworden: zu einer unglaublich edlen Mörderin.
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