Über Bord
wolle, sie müsse ihren letzten freien Tag auskosten. Ellen war es mehr als lieb, dass Penny eine Weile fortblieb. Als sie allein waren, meinte Hildegard, ein Recht auf einen ausführlichen Reisebericht zu haben.
»Gut, dass ich nicht dabei war«, sagte sie mehrmals, denn Ellen war klug genug, von wütendem Sturmgebraus und heftiger Seekrankheit zu berichten, Glücksgefühle und Sonnenseiten aber auszusparen.
»Hat sich das Kind wenigstens amüsiert?«, fragte Hildegard. »Nur ihretwegen habe ich ja verzichtet!«
Obwohl das nicht der Wahrheit entsprach, ließ Ellen die Behauptung ihrer Mutter gelten und erzählte, dass Amalia mit einem reichen Witwer getanzt und von einer noch viel reicheren alten Dame eine Goldkette bekommen habe. Hildegards Augen begannen zu leuchten. »Gold? Dann hat sich ja alles gelohnt«, meinte sie. Aber dann wurde sie nachdenklich.
»Dieser Gerd ist jetzt Witwer geworden, lass bitte die Finger von ihm«, sagte sie. »Es ist doch immer dasselbe: Erst bist du seine Sternschnuppe, dann nur noch schnuppe. Sieh mal, wir drei Frauen leben doch so nett und friedlich zusammen, ein Mann würde bloß stören. Außerdem ist er Rudolfs Sohn und hat womöglich eine Neigung zum Fremdgehen geerbt. Mach dich nicht schon wieder unglücklich!«
Ach Gott, wie simpel sie gestrickt ist! Wieder mal die Gene!, dachte Ellen. Aber sie sagte nur: »Es gibt auch Paare, die seit Jahren gut miteinander auskommen, denk doch nur an Matthias und Brigitte!«
»Das sind die absoluten Ausnahmen«, sagte Hildegard und räumte den Tisch ab.
26
Erst als sie Brigittes Garderobe zur Blitzreinigung gebracht und eingekauft hatte, las Ellen die Mails, die während ihrer Reise angekommen waren. Eine Freundin schickte ihr regelmäßig einen lustigen Spruch, diesmal: Some people are alive only because it’s illegal to kill them. Das brachte sie auf die Idee, endlich Ortruds USB -Stick an ihren Rechner anzukoppeln.
Interessant erschienen ihr natürlich die zahlreichen Aufnahmen, die anscheinend alle von ihrer gemeinsamen Kreuzfahrt stammten. Hier strahlte die sonnengebräunte Amalia, da posierte sie selbst in Brigittes schönstem Kleid. Auch ohne Personen darauf gab es wunderbare Erinnerungen: das Schiff MS RENA vom Hafen aus gesehen, Kastelle, Kirchen, Gässchen und die Sagrada Familia. Halt, dachte Ellen, die Gaudí-Häuser muss Gerd fotografiert haben, denn Ortrud war ja in Barcelona gar nicht mit von der Partie. Und hier war sie auch schon: Die Schnapsdrossel streckte ihr gerötetes Gesicht aus der roten Lederjacke gen Himmel – wie gut, dass Amalia das teure Stück nicht geklaut hatte. Überhaupt konnte sie sich im Nachhinein nicht erinnern, Gerds Frau jemals mit einem Fotoapparat gesehen zu haben. Langsam dämmerte es ihr, dass es sich bei diesem Fundstück nicht um einen Gegenstand aus Ortruds, sondern aus Gerds Besitz handelte.
Was mochte ihr Liebster denn sonst noch alles speichern? Anscheinend hatte er genau wie Ortrud den Drang verspürt, ständig etwas aufzuschreiben. Im Gegensatz zu ihr trug er allerdings seine Notizen und Gedankengänge nicht handschriftlich ein und pflegte dabei diverse Ordner immer wieder ineinander zu verschachteln, so dass Ellen ihre liebe Not beim virtuellen Blättern hatte. Da gab es zum Beispiel Grundstückspreise und Zahlenkolonnen, die wohl mit seinem Beruf zu tun hatten und mit denen sie nichts anfangen konnte. Aber auch technische Daten, die sich auf das Kreuzfahrtschiff bezogen. So wurde zum Beispiel die Leistung der Azipods mit 13000 Kilowatt angegeben, die der Bugstrahlruder mit 1600 Kilowatt. Was Männer doch so alles interessiert, dachte Ellen belustigt: die Einwohnerzahlen aller Städte auf dieser Reiseroute, das Baujahr des Ozeanographischen Museums in Monte Carlo, die Länge und Tiefe der Straße von Gibraltar und so weiter. Na toll, dachte Ellen, das kann ich mir getrost schenken.
In einem anderen Dokument mit der Bezeichnung Logbuch gab es kurze Notizen. Gleich zu Beginn hatte Gerd ein Zitat von Kant vorangestellt: Ich kann, weil ich will, was ich muss. Eine Weile dachte Ellen über diesen Satz nach und verstand ihn trotzdem nicht. Im weiteren Verlauf erschienen immer wieder die Anfangsbuchstaben verschiedener Personen, etwa A, O, E, F, H oder M .
Es war ihr zu mühsam, die unverständlichen Abkürzungen im Telegrammstil systematisch zu studieren, Ellen las kreuz und quer, übersprang manche Passagen, schloss einige langweilige Ordner, kehrte wieder zum Anfang zurück und
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