Über das Trinken
hatten, hier zufällig reinzugeraten, sagen viele noch bis heute, daß es eines der eindrucksvollsten Erlebnisse ihres Lebens war. Unter anderem ich.
Dabei war der Ort denkbar unspektakulär: ein Art Lagerraum an den Fondamente Nove, sozusagen auf der Rückseite von Venedig, da, wo kaum ein Tourist je seinen Fuß hinsetzt. Als wir kamen, war die Party offiziell eigentlich schon vorbei, aber alle hüpften noch auf der Tanzfläche herum. Wirklich alle. Und wirklich: sie hüpften. Wie Kinder auf einem Trampolin. Eine Art von Ausgelassenheit war das, wie man sie bei Erwachsenen nur selten sieht, und noch seltener bei allen auf einmal. Dabei
ging der Wodka, den diese Menschen offenbar den ganzen Abend über getrunken hatten, zielstrebig zur Neige, schon bald hob der alte Italiener, den sie hinter die improvisierte Bar gestellt hatten, die Schultern und sagte, es gebe nur noch Mineralwasser. Dabei schaute er froh, er wollte nämlich nach Hause.
Nahmen die Leute eben das Mineralwasser.
An der Intensität der Feier änderte das nichts. Im Gegenteil. Es war, als würden sie von dem Mineralwasser noch betrunkener. Sie hüpften immer wilder herum und schrien vor Vergnügen. Dauernd meinte jemand, die Sängerin Björk sei ebenfalls da, gerade eben habe man sie noch durch die Luft fliegen sehen.
Die Musik machte einer, der Island einmal beim Grand Prix de la Chanson vertreten hatte und mit sagenhaften null Punkten heimgekehrt war. Er war seitdem auf der Insel, so hieß es, als Null-Punkte-Trottel bekannt, aber was er an Platten auflegte, das begeisterte seine Landsleute über jedes Maß. Jedes einzelne Stück wurde frenetisch bejubelt. Egal ob Schlager oder Heavy Metal. Jedesmal taten alle so, als erklänge endlich wieder einmal ihr absolutes Lieblingslied. Und mit jeder Palette Mineralwasserflaschen, die über den Tresen ging, potenzierte sich diese Stimmung noch. Irgendwann sah ich den Italiener, wie er ungläubig selbst einmal so ein Plastikfläschchen nahm und probierte. Sein Gesicht verriet Enttäuschung. Tatsächlich – nur Wasser.
Er konnte es nicht begreifen. Hilflos starrte er in den Exzeß um ihn herum. Der »Taumel«, die »seelische Trunkenheit«, das »Entzücken des Innern bis hin zum Selbstvergessen« – das hier hatte alles, was die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch unter dem Rubrum »Rausch« auflisten. Nur daß irgendwann der Kraftstoff weggelassen wurde und der Motor von alleine weiterlief. Es ging über Stunden so. Die Leute wurden praktisch schon wieder nüchtern, während sie immer besoffener wurden. Vom Wasser. Oder eigentlich eher von sich selbst. Das italienische Personal schaltete das Licht an, die Isländer jubelten und tanzten weiter. Die Italiener stellten dem DJ den Strom ab, die Isländer jubelten und sangen stattdessen. Die Italiener machten den Laden zu, die Isländer applaudierten und zogen in die Innenstadt, um auf dem Campo di Santa Maria Formosa noch ein paar Stunden weiterzufeiern.
Sie nahmen noch ein bißchen Mineralwasser mit, und am Ende sprangen ein paar Mädchen aus Übermut in die Kanäle, wobei sie sich Schnittverletzungen zuzogen an dem Unrat, der da unter dem Wasser liegt, aber das tat der Laune keinen Abbruch: Nasse Mädchen, eben aus dem Kanal gekrochen – das mußte gefeiert werden …
Und wenn am Ende dieser Orgie sämtliche Anwesenden eine Alkoholprobe hätten abgeben müssen, wäre bei den meisten irgendetwas um die null Promille herausgekommen.
Zwei Lehren sind daraus zu ziehen.
Erstens: Möglicherweise liegen die Zukunft des Trinkens und die Rettung des Rauschs im Wasser. Sublimierung ist die Geheimwaffe aller Genußsüchtigen, und Askese, sagt man, ist die höchste Steigerung rauschhaften Lebens. »Die Dosis kann also minimal werden«, um ein letztes Mal Ernst Jünger zu zitieren, »unter Umständen können auch Stoffe berauschen, die als neutral gelten.« Da bietet sich Wasser natürlich an, aber nicht als billige Alternative zum Alkohol, sondern als letzte Steigerungsform, gewissermaßen als Potenzierung wie bei den Homöopathen. Es gibt ja diese Momente, in denen alles so perfekt ist, daß jedes weitere Bier nur bitter und jeder andere Drink nur klebrig schmecken würde, es gibt diese Momente, in denen nur noch Wasser glücklich macht. Aber dieses Wasser muß man sich verdienen.
Vielleicht ist es ja so, daß die Gesellschaften des Westens diesen Punkt jetzt erreicht haben. Vielleicht ist es so, daß nach so vielen Jahrhunderten des
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