Über das Trinken
marginalisiert. Wenn nur noch eine Minderheit trinkt, die dann aber exzessiv, wird die Mehrheit die Kosten, die dieses Trinkverhalten allein den Krankenkassen verursachen wird, irgendwann nicht mehr mittragen wollen. Am Ende wird nur noch der trinken, dessen Körper nicht mehr anders kann, und die Breitenkultur des Genuß- und Rauschtrinkens, von der in diesem Buch die Rede war, wird erloschen sein. Wenn das Trinken zur kulturellen Ausnahme wird, wird man keine kulturelle Ausnahme mehr dafür machen.
Der Alkohol mag die Menschen seßhaft gemacht, gewärmt, genährt und spirituell erweitert haben – aber heute haben wir feste Wohnungen, Kühltruhen und für höhere Bedürfnisse eine Bundeskulturstiftung. Er ist eine Technologie von gestern. Und auch als jahrtausendealter Kulturfetisch enthält Wein nun einmal Alkohol. Alkohol kann nachweislich Schaden anrichten, er ist eine Gefahr für Leib und Leben, also müssen die Menschen davor
geschützt werden. Gelegentlich hört man zwar noch Stimmen, die individuelle Verantwortung einfordern und es sich verbitten, vor zu vielen Dingen geschützt zu werden. Aber individuelle Verantwortung entzieht sich, erstens, der Regulierbarkeit. Zweitens sind Sicherheit, körperliche Integrität und langes Leben ein hohes Gut, von dem sämtliche Generationen vor uns nur träumen konnten. Man sollte das nicht geringschätzen. Jahrhundertelang war das Bild für derart gesicherte Verhältnisse: das Paradies. Ein aktuelleres wäre: die Welt als Fahrradhelm.
Nein, das ist kein bißchen ironisch gemeint.
Aber ja, ich halte das auch für beklemmende Aussichten.
Trotzdem bin ich überzeugt, daß es so kommen wird, weil es so kommen muß. Es ist ganz einfach das Ergebnis, wenn man die Tendenzen von heute auf ihre langfristigen Folgen hin betrachtet.
Vielleicht hilft es, mutig und verantwortungsbewußt und mit Genuß dagegen anzutrinken.
Sicher ist nur, daß mit dem Trinken ein uraltes Menschheitswissen verschwinden würde. Die Rauschmittel und Benebelungstechniken, die an seine Stelle treten werden, die werden dafür dann so absolut neu, ungewohnt, gefährlich und überraschend heftig sein, daß wir uns davon heute noch gar keine Vorstellung machen können.
Denn eins steht fest: Das Trinken können sie uns eventuell nehmen, aber den Rausch müssen sie uns lassen. Zufällig erfährt man bei dem größten Fachmann für den Rausch an sich, daß er dafür noch nie den Alkohol brauchte. Friedrich Nietzsche schreibt in seinem Buch »Ecce Homo« unter der Überschrift »Warum ich so klug bin«, wo er vom Einfluß der Nahrungsmittel auf die geistige Tätigkeit spricht, den überraschenden Satz: »Alkoholika sind mir nachtheilig.« Ein Glas Wein oder Bier am Tag reichten vollkommen aus, »mir aus dem Leben ein ›Jammerthal‹ zu machen.« Ausgerechnet der Cheftheoretiker des Dionysischen sagte nein zu den eigentlichen Gaben des Dionysos. Dafür steht bei Nietzsche: »Wasser thut’s …«
Auf die Frage, was man trinken soll, wenn es nichts mehr zu trinken gibt, ist das keine ganz uninteressante Antwort. Denn ich darf bestätigen, daß es tatsächlich funktioniert. Einmal war ich nämlich Zeuge, als dieses nietzscheanische Konzept umgesetzt wurde. (Es hatte solche Versuche wohl auch früher schon gegeben, vor allem im Umkreis des Dichters Stefan George, wo man unter Masken und antiken Gewändern durch die Straßen schritt, lebensphilosophisch daherredete und dionysische Fummelfeste feierte. Ich war nicht dabei. Ich glaube trotzdem, das Fest, von dem ich zu erzählen habe, war besser …) Es war auf der Kunstbiennale von Venedig im Jahr 2005, und die Isländer hatten zu ihrer Party geladen.
Island ist ein Land von 280 000 Einwohnern, die offensichtlich alle Kunst machen oder Musik oder jemandem, der Kunst macht oder Musik, angehören, und deshalb sind immer alle 280 000 Isländer während einer Biennale, so scheint es jedenfalls, in Venedig anwesend und sorgen dort für gute Stimmung.
Nahezu alle, die bei der Kunstbiennale mit einem Länderpavillon vertreten sind, veranstalten auch eine Party. Nicht selten bleiben die am Ende stärker in Erinnerung als die gezeigten Kunstwerke. Denn alle feiern mit einer Leidenschaft, als gäbe es auch dafür einen Goldenen Löwen zu gewinnen. Aber da können die Russen noch so viel Champagner in den Canal Grande kippen – auf ewig uneinholbar vorn liegen in dieser Disziplin eben die Isländer seit jener Nacht im Juni 2005. Von denen, die das Glück
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