Ueber den gruenen Klee gekuesst - Roman
begeistert von einem Bein aufs andere hüpft. »Lu, komm schnell und schau mal!«
Ja, richtig gehört! Wenn er mich nicht gerade »Häschen« nennt, bin ich für ihn »Lu«. Ich folge seiner Aufforderung und erwarte zumindest ein rosafarbenes Kaninchen zu sehen, das vor unserem Haus einen dreifachen Salto schlägt, und entdecke ... absolut gar nichts. Besorgt schaue ich meinen Vater an, aber der lacht nur vergnügt: »Schnee! In Irland schneit es fast nie, das ist ja wie ein Wunder.«
Tatsächlich: Ein winziges Flöckchen hat sich auf dem Fenster niedergelassen, um dort sofort zu schmelzen. Ich teile seine anrührende Begeisterung nicht sofort. Muss ich mich jetzt über Kälte und Schnee freuen, nur weil es auf dieser Insel offenbar die Ausnahme von der Regel ist? Erstens ist es fast zwei Monate zu spät für die weiße Weihnacht, die ich mir gewünscht hätte, zweitens fällt mir wieder ein, dass ich gar keine warmen Klamotten dabeihabe. An dieser Stelle merke ich, dass ich gar nicht friere – obwohl im Kamin kein Feuer brennt.
»Heizung«, erklärt mein Vater kichernd.
Oh, na klar, so etwas gibt es in Irland natürlich auch. Sogar in einem verwunschenen kleinen Cottage wie diesem. Wir trinken in stiller Eintracht unseren heißen Kaffee und schauen, wie das Schneetreiben stärker wird. »Das wird
morgen bestimmt das Thema!« Mein Vater hat sich also schon voll und ganz eingelebt und redet längst in den hiesigen Zungen. Ich verstehe kein Wort.
»Na, in der Zeitung, Häschen.«
»Was denn genau?«
»Na, der Schnee«, er deutet auf das Außenthermometer, »und die fünf Grad.«
Es ist wohl so, dass der Golfstrom hier irgendwo vorbeifließt, so dass es auch im Winter noch lau und grün ist und an manchen Orten sogar Palmen wachsen. Hm, ich hatte mir Irland immer ganzjährig nasskalt vorgestellt – und dass Wachsjacken über dicken naturfarbenen Schurwollpullovern mit Stehkragen und Zopfmuster hier wirklich eine sinnvolle Erfindung sind. Damit hätte ich zumindest meinen Koffer vollgepackt, wenn ich so etwas besäße – oder vorher noch Zeit und Muße zum Einkaufen gehabt hätte.
»Nimm dir etwas zu essen. Kaffee habe ich schon gekocht. Leider habe ich keine großen Vorräte im Haus.«
Ich schenke mir einen Kaffee ein und schiebe zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dazu gibt es Leberwurst und Johannisbeermarmelade. Ich schmiere beides übereinander und empfinde das als ultimativ-kreatives kulinarisches Highlight. Essen konnte ich in letzter Zeit nämlich auch nicht. Ich schaue aus dem Fenster. Eigentlich ist es doch ganz hübsch, so ein bisschen Schnee. Und mit etwas Verspätung komme ich doch tatsächlich noch in Weihnachtsstimmung. Klingt vielleicht seltsam, aber Weihnachtsstimmung ist für mich nicht die Freude an Tannenbäumen, roten Kugeln, Adventskränzen und Krippenspielen, sondern die Lust auf Märchenfilme und -bücher, die man im Sommer bei dem ganzen gleißend hellen Tageslicht nicht anrühren würde.
Aber wenn die Tage kürzer werden und sich dann noch ein weißer Schleier über die Landschaft legt, ist alles etwas diffuser – auch mein Verstand. Dann will ich mich nur noch einigeln, »Drei Nüsse für Aschenbrödel« gucken und auch eine Nuss knacken, aus der dann – unter dem strengen Blick einer geheimnisvollen Schleiereule – ein silbriges Ballkleid hüpft. Außerdem ist bei mir das letzte Weihnachten komplett ausgefallen, da darf man schon etwas gefühlsduselig werden. Martin und ich hatten uns frisch getrennt, mein Vater war schon in Irland und meine Mutter mit ihrem neuen Lover in Griechenland. Dass es Grund zu feiern gab, habe ich nur daran gemerkt, dass ich drei Tage lang keine Lebensmittel einkaufen konnte, weil alle Läden geschlossen hatten – und ich so endlich mal alle Dosen in meinem Vorratsschrank aufgebraucht habe. Das Fest an sich fand ich immer albern. Zumindest dachte ich das, solange stets irgendjemand da war, mit dem man bei Kerzenschein zusammensitzen, etwas Leckeres essen und sich angetrunken zanken konnte. In meinem Fall waren das bislang immer noch meine Eltern. Diesmal habe ich zum ersten Mal verstanden, was es mit der »Weihnachtsdepression« auf sich hat. Laut Weltgesundheitsorganisation steigt die Rate der Selbstmordversuche an den Tagen nach Weihnachten um fast 40 Prozent an – zumindest in Ländern, in denen an diesen Tagen nicht gearbeitet wird. Da ist es doch schon fast eine Frage der Menschlichkeit, die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen und den Leuten
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