Ueber den Himmel hinaus - Roman
Bäckerei Spätdienst hatte, ging Onkel Iwan
mit den Mädchen spazieren. So lernte sie die Prachtstraßen von Leningrad kennen, die überwucherten Gärten, die säuerlich stinkenden Kanäle und die riesigen öffentlichen Plätze. Onkel Iwan kaufte ihnen Eiswaffeln, die sie draußen auf der Straße verputzten, während er in einer Bar ein, zwei Gläser mit Freunden trank. Dann machten sie sich auf den Rückweg und ließen den endlosen Nachmittag mit einer Schüssel frischer Pelmeni ausklingen, die Irina Petrowna, eine ältere Nachbarin, während ihrer Abwesenheit in der Gemeinschaftsküche zubereitet hatte.
Trotzdem zählte Lena die Tage, bis ihr Papa zurückkommen würde. Er hatte versprochen, zu ihrem Geburtstag am neunzehnten August wieder da zu sein.
Als Tante Stasja sie am Abend vor dem großen Tag ins Bett brachte, konnte Lena vor Aufregung kaum einschlafen.
»Morgen hast du Geburtstag«, bemerkte Tante Stasja und strich ihr ein paar Strähnen aus der Stirn. »Sechs Jahre. So ein großes Mädchen.«
Lena nickte. »Ich freue mich schon so auf Papa«, sagte sie.
»Es wird bestimmt ein schöner Tag«, erwiderte Tante Stasja lächelnd und erhob sich, doch es war nicht ihr übliches Lächeln. Zum ersten Mal erfasste Lena ein Anflug von Angst.
Sie verfolgte, wie ihre Tante Natalja eine gute Nacht wünschte und sich dann wie üblich zu Sofi aufs Bett setzte, um »Bajuschki Baju« anzustimmen. Sie fühlte sich entwurzelt, heimatlos, und bei dem Gedanken an Tante Stasjas gezwungenes Lächeln keimten ernste Zweifel in ihr auf: Was, wenn Papa nicht kam?
Nein, sagte sie sich. Er hatte es versprochen. Er würde sie nicht enttäuschen. Doch dann fiel ihr ein, wie oft er das
schon getan, wie oft er sie zu spät vom Babysitter abgeholt oder sie mit Natalja nach einem hastigen Abschied bei irgendwelchen Verwandten zurückgelassen hatte.
Seit sie bei Tante Stasja und Onkel Iwan wohnten, hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Zugegeben, sie konnte kaum lesen, und ein Telefon gab es nicht. Aber sonst hatte er ihnen wenigstens eine bunte Postkarte geschickt, auf der er seine Rückkehr angekündigt und ihnen Geschenke versprochen hatte, die allerdings noch jedes Mal unterwegs verloren gegangen waren.
Schließlich ging Tante Stasja hinaus und schloss die Tür. Lena starrte in die Dunkelheit und fragte sich beunruhigt, ob Papa überhaupt jemals zu ihnen zurückkehren würde.
Der Morgen war angebrochen, die Sonne schien matt durch die Vorhänge. Lena konnte sich nicht an ihren fünften Geburtstag erinnern, so sehr sie sich auch bemühte. Heute wurde sie sechs. Eine schrecklich große Zahl, die ihr das Gefühl gab, erwachsen zu sein und ihr zugleich ein wenig Angst einflößte. Wann würde Papa wohl kommen? Beim Frühstück malte sie sich aus, was er sagen würde. »Meine Güte, bist du gewachsen, Lena«, hatte er oft gestaunt. Vielleicht würde er das ja heute auch sagen. Und schon bald würden sie ihre Koffer packen und mit Papa nach Hause fahren, wo auch immer das war.
Onkel Iwan und Tante Stasja gingen wie gewohnt zur Arbeit; die Mädchen hatten Ferien und wurden daheim von Irina Petrowna, der Nachbarin, beaufsichtigt. Sie hatte Lena ein Geschenk mitgebracht: bunte Filzstifte und einen kleinen Malblock mit steifen weißen Blättern. Lena küsste sie zum Dank auf die Wange, in sicherer Entfernung zu dem haarigen Muttermal neben dem Ohr. Dann kniete sie
sich wieder auf den Stuhl, den sie ans Fenster geschoben hatte, um nach Papa Ausschau zu halten.
Nach dem Mittagessen versuchte Sofi vergeblich, Lena mit einem Spiel von ihrem Hochsitz herunterzulocken.
»Ich bleibe lieber hier«, sagte Lena, ohne die Straße aus den Augen zu lassen, als könnte sich ihr Vater womöglich in Luft auflösen, wenn sie sich auch nur einen Moment abwandte. Solange sie hier saß, würde er kommen.
Gegen vier verlor Natalja die Geduld. »Nun komm endlich von diesem Stuhl runter«, befahl sie.
»Nein, dann verpasse ich Papa.«
Natalja stürmte davon. Lena wusste, dass ihre Schwester fürchtete, er könnte nicht kommen.
Tante Stasja kehrte mit einem Kuchen aus der Bäckerei zurück, in dessen Glasur Lenas Name und Alter eingeritzt waren. Onkel Iwan überreichte ihr ein Geschenk - ein Tamburin, eingewickelt in zartlila Seidenpapier, so blass wie der Sommerabend draußen.
Nur sehr widerstrebend verließ Lena ihren Platz am Fenster, um zu Abend zu essen. Danach kehrte sie unverzüglich auf ihren Posten zurück.
Er würde kommen, ganz
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