Ueber den Himmel hinaus - Roman
»Nein, aber es gibt nicht viel Hoffnung.«
Sofi sah erneut zu ihrer Mutter, die sich nun auf den Bauch gedreht hatte, das Gesicht in den Händen vergraben. Ihr ordentlicher Knoten hatte sich gelöst, die Haare ergossen sich über das Kissen. Sie schluchzte lautlos; Sofi konnte es an ihrem zuckenden Rücken erkennen. Sie wäre gern zu ihr gegangen. Sie sehnte sich nach ihrer warmen Umarmung, nach ihren gelassenen, beruhigenden Worten. Doch sie wagte nicht, ins Schlafzimmer zu gehen, zu Mama, die dort auf dem Bett lag und bitterlich weinte. Wenn sie einfach blieb, wo sie war, sich am Sofa festhielt und die Augen ganz fest zukniff, dann … Vielleicht war das alles gar nicht wahr. Vielleicht war es nur ein böser Traum, aus dem sie gleich erwachen würde.
Stimmen im Korridor. Natalja und Lena.
»Warum hast du nicht auf uns gewartet, du …« Natalja verstummte abrupt.
Jemand berührte Sofi an der Schulter. Sie schlug die Augen auf. Wassili Iljitsch schob sie in Richtung Schlafzimmer. »Geh zu deiner Mutter. Sie braucht dich.«
Also war es doch kein Traum. Ihre Cousinen starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an, ängstlich und verwirrt. Mit bleischweren Beinen schleppte sich Sofi ins Schlafzimmer,
und Mama drehte sich zu ihr um, streckte die Arme nach ihr aus und schluchzte: »Oh, Sofi, mein Kind, mein Kind.« Sofi rollte sich neben ihr auf dem Bett zusammen, und obwohl Mama direkt neben ihr lag, spürte sie, dass sie weit, weit weg war, in ihrer Trauer versunken, und Sofis Bedürfnis nach Trost blieb ungestillt.
Sofi saß auf einem Stuhl am Fenster und verfolgte, wie sich der Himmel über die Stadt senkte; dicke dunkelgraue Wolken, schwer beladen mit Schnee. Hinter ihr ertönte das rhythmische Klappern von Irina Petrownas Stricknadeln. Papa war seit zwei Wochen im Krankenhaus, und Sofi hatte ihre Mutter in dieser Zeit kaum zu Gesicht bekommen. Mama wachte am Krankenbett und fuhr erst mit der letzten Tram in der eisigen Kälte der Nacht nach Hause. Irina Petrowna passte auf die Mädchen auf, kochte für sie und aß mit ihnen, aber danach war Sofi zuständig und musste sich und ihre Cousinen rechtzeitig ins Bett bringen. Dabei konnte Sofi ohnehin nicht schlafen, solange Mama außer Haus war.
Natürlich besuchte auch Sofi ihren Vater, und ihr war klar, dass er nicht wieder gesund werden würde. Papa war nie besonders lebhaft gewesen, aber die Reglosigkeit, mit der er nun in seinem Bett lag, war merkwürdig, ja, geradezu unnatürlich. Sein Gesicht war hinter Schläuchen und Bandagen verborgen. Sofi wusste, dass er sterben würde, doch sie brachte es nicht übers Herz, das ihrer Mutter zu sagen, die die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben hatte. Sofi graute fast noch mehr vor der Trauer ihrer Mutter als vor dem Verlust des Vaters.
Als Onkel Iwan vierzig Tage nach seinem Unfall starb, gestand sich Natalja verschämt ein, dass sie erleichtert war.
Sie hatte zahllose Stunden damit zugebracht, in dem eiskalten Krankenhaus neben seinem furchteinflößend reglosen Körper zu sitzen. Dann hatten sich die Schneeschauer zu einem Sturm verdichtet, der es sechs Tage lang unmöglich gemacht hatte, vor die Tür zu gehen. Es hatte sich angefühlt, als wäre sämtliche Farbe aus ihrem Leben gewichen. Lena und Sofi, ihre besten Freundinnen, waren wie gelähmt von der schrecklichen Last des Wartens.
Für Tante Stasja waren die vierzig Tage die reinste Folter gewesen. Seit Onkel Iwans Tod jedoch war sie bemerkenswert ruhig, organisierte die Überführung des Leichnams in ein Krematorium, füllte stapelweise Formulare aus und empfing mit versteinerter Miene die wohlmeinenden Besucher, die mit bescheidenen Blumensträußen, verbotenen Segenssprüchen oder erbarmungsloser Neugier zu ihr kamen.
Am Nachmittag nach der Einäscherung saß Natalja am Wohnzimmerfenster und sah zu, wie eine endlose Flut von Schneeflocken auf die graue Straße hinunterschwebte. Plötzlich stand Lena mit verweintem Gesicht neben ihr. Natalja zog sie an sich.
»Papa ist weg, und Onkel Iwan ist tot, und Tante Stasja ist so traurig, dass es mir Angst macht«, sagte Lena. »Wer wird sich jetzt um uns kümmern?«
»Wir haben doch einander, Lena«, murmelte Natalja in die Haare ihrer Schwester. Doch wer würde sich um Sofi kümmern?
Ihre arme Cousine, deren unglückliche, ungläubige Miene sich für immer in ihr blasses, sommersprossiges Gesicht eingebrannt zu haben schien. »Komm, wir sehen mal nach, wo Sofi steckt«, sagte sie.
Sie fanden sie in
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