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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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herabfallende Sternschnuppen um ihn glitzerten, seinem Tanz in einer schimmernden Wolke folgte, so würde er dieses Bild noch zusätzlich zu der Magie des Augenblicks addieren, die Liam folgte, wohin er sich auch wandte.
    Und das nicht nur während seiner Auftritte. Liam versprühte diesen Zauber ohne Einschränkungen. Egal wo er sich befand, egal worin seine Aufgabe bestand, er erfüllte sie mit einer graziösen Leichtigkeit, um die ihn jedermann beneidete. Er besaß diese Wirkung auf Menschen. Und mehr als alles andere bestimmte ihn dieses Talent für die Bühne.
    Nathan, selbst ein Kind des Theaters, war sich nur allzu bewusst, dass er selbst diese Macht nie besitzen würde. Diese Macht über das Publikum, das gebannt an Liams Lippen hing, sobald er sprach, sobald seine samtene Stimme in ihrem dunklen Tief erklang. Und noch mehr, sobald er sang, sobald er die schwierigsten Melodien und Sprünge meisterte, ohne dass es nur nach der mindesten Anstrengung aussah.
    Nur manchmal erhaschte Nathan einen Moment, in dem Liam sich ungesehen glaubte. In dem er sich vom Publikum abwandte, einen Augenblick Luft holte, einen Augenblick nur zuließ, dass die Beherrschung, die er benötigte, kurz, für den Bruchteil einer Sekunde, zerbrach, Raum ließ für den Anblick der Erschöpfung, für die strengen Falten um Mund und Augen, für die hohlen Wangen, das rasche Heben und Senken des Brustkorbes, das keiner bemerken durfte, das die Illusion zerstörte, die er so bemüht war, aufzubauen.
    Die aufzubauen seine Arbeit war.
    Nathan riss erschrocken seine Augen auf. Die Musik ertönte lauter als zuvor, stieg an, riss die Zuhörer mit sich. Sie entführte die Menschen in fremde, schönere Welten. In Welten, in denen Märchen und Träume Wahrheit wurden.
    Nur für Liam funktionierte die Illusion nicht. Und nur Nathan sah ihn straucheln, sah das schmerzverzerrte Antlitz, das sich blitzartig dem Hintergrund zuwandte, um die eigene, verbotene Schwäche zu verbergen.
    „Liam“, wisperte Nathan unhörbar und der Schreck erfasste ihn ebenso wie die Liebe in seinem Herzen aufwallte. Die Liebe, von der er nur allzu lange wusste, doch die zu gestehen, er noch nicht einmal sich selbst gegenüber in der Lage war.
    Zu weit entfernt, zu unerreichbar war diese Gestalt, der Mensch, der auf der Bühne König war und dessen Bild in Rüstung und weißem Umhang, Nathan bis in die Nacht hinein verfolgte.
    Nathan biss sich auf die Lippen und krallte sich in den Vorhang. Er wusste, dass er nicht auf die Bühne laufen durfte. So sehr es ihn auch drängte, dem anderen zu Hilfe zu eilen. So sehr er sich auch wünschte, die Versicherung einholen zu dürfen, dass es Liam gut ginge, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte, so gewiss war auch, dass es ihm niemand und am allerwenigsten Liam danken würde, sollte er sich dazu hinreißen lassen, seinen Platz aufzugeben und die Vorstellung zu stören.
    Eine Vorstellung, in der seine eigene, kleine Rolle so wenig auffiel, dass selbst ein Eingreifen seinerseits beim Publikum keinerlei Erkennen oder zusätzliche Verwirrung auslösen durfte. Trotzdem hielt er sich an die Regeln, wie er es immer tat, umklammerte krampfhaft die Falten den schweren Stoffes, fühlte mehr als er sah, wie seine Knöchel weiß wurden, während er beobachtete, wie Liam versuchte, seinen Atem zu beruhigen, wie er vorsichtig seinen linken Fuß erprobte, weitere Takte verstreichen ließ, bevor er sich mit einem Nicken zur Seite umdrehte, und seinen Gesang wieder aufnahm.
    Nathan beobachtete, wie achtsam Liam seine Schritte ausführte, wie vorsichtig er seine Drehungen und Sprünge mehr andeutete, als sie wirklich zu tanzen. Nur mit den ersten Worten schwang ein leichtes Zittern mit. Danach erklang Liams Stimme voll und sicher, so wie es von ihm erwartet wurde.
    Langsam ließ Nathan die Luft aus seinen Lungen entweichen, verbrauchte Luft, die er unbewusst angehalten hatte.
    Liams Mimik erschien gewohnt selbstsicher, seiner Rolle als König Arthur mehr als gerecht. Seine Stimme beherrschte und erfüllte den Saal. Und wie einstudiert, bewegte Liam sich um die wochenlang, monatelang studierten und geübten Schritte herum, lenkte den Blick des unwissenden Zuschauers von den unvorhergesehenen Mängeln in seiner Performance mit wilden Schwüngen seines silbrig glänzenden Umhanges ab, mit der spielerischen Handhabung des Schwertes, das mit Hilfe der Scheinwerfer als Blickfang fungierte und spielerisch jegliche Aufmerksamkeit von seinem Besitzer

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