Ueber den Horizont hinaus - Band 1
wie sehr du auf andere wirkst.“
„Ich…“
„Du verkaufst dich unter Wert. Ich meine… du solltest nicht…“ Er schwieg.
„Entschuldige bitte“, fuhr Ian schließlich fort. „Ich habe kein Recht, so etwas zu sagen.“
Marvins Hitze wich einer Kälte, die von innen heraus in ihm hochstieg. „Doch, das hast du“, erwiderte er heiser. „Ich… ich schätze, es ist eine Art Macht der Gewohnheit.“
Ians Stimme wurde leise und sanft. „Das ist es nicht“, sagte er. „Du suchst nach etwas, und weißt nur nicht, wo du es finden kannst.“
Marvin holte tief Luft. „Ich weiß nicht, wonach ich noch suchen könnte.“
„Da gibt es etwas“, fuhr Ian fort. „Doch du musst es allein finden. Das muss wohl jeder.“
„Hast du…“
Ian schüttelte den Kopf. „Ich bin auch auf der Suche. Doch vielleicht…“ Er stockte, sah Marvin an mit seinen dunklen, samtenen Augen. „Vielleicht sollten wir zusammen weitersuchen. Vielleicht können wir gemeinsam etwas finden, das finden, was wir brauchen.“
Marvin schluckte. Dann nickte er. „Ich… das würde ich mir wünschen, Ian.“
Der Dunkelhaarige lächelte. Er legte seine Hand auf die Marvins, welche immer noch sein Knie umklammerte. Langsam, ein wenig zögernd beugte er sich vor. Ließ dem anderen ausreichend Zeit, ihm auszuweichen, sollte er so wollen.
Doch Marvin wich nicht aus. Im Gegenteil. Von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte er sich auf Ian zu, fühlte wie sich der Abstand zwischen ihren Körpern, zwischen ihren Lippen verkleinerte, bis sie schließlich aufeinandertrafen in einem ersten, zarten Kuss. Einem Kuss, wie keiner der beiden ihn je zuvor erlebt hatte. Vorsichtig, zerbrechlich, der zitternde Keim einer Pflanze, die es gerade, wenn auch mit Mühe geschafft hat, den Erdboden zu durchstoßen. Ein Kuss, der ein Anfang sein konnte, ebenso wie ein Ende. Ihre Lippen öffneten sich. Ihre Münder bewegten sich zaghaft zuerst, doch dann drängender, mit wachsendem Hunger, mit steigender Erregung.
Plötzlich trennten sie sich, fuhren auseinander, als wäre ihnen erst in diesem Augenblick bewusst geworden, was sie taten.
„Es… es tut mir leid“, wisperte Marvin. „Ich… ich wollte nicht.“
„Was wolltest du nicht?“ Ians Brustkorb hob und senkte sich in raschem Tempo. Ein leises Keuchen entfuhr ihm, gefolgt von einem Lächeln, das tief in seinem Inneren seinen Ursprung hatte, nach oben stieg und sich wie ein Leuchten auf seinem Gesicht ausbreitete.
„Du…“ Marvin sah ihn ungläubig an. Sein Herz raste und er fühlte das Blut in seinen Adern pochen. Es gab für ihn kaum eine andere Erinnerung als die an Männer, die es nicht wagten, ihre Neigung zuzugeben, noch nicht einmal vor dem Menschen, den sie als ihren Partner ausgewählt hatten. Es war nur Sex, eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis und nichts, das fälschlicherweise mit Gefühlen in Zusammenhang gebracht werden durfte.
Doch Ians offenes Lächeln belehrte ihn etwas Besseren. Und wie ein Wunder stieg die Erkenntnis in ihm auf, dass hier jemand war, der ihn verstand, der vielleicht sogar fühlte, dachte wie er selbst.
„Du…“
Ian nickte und sein Lächeln verbreiterte sich, wurde zu einem Strahlen. „Ich verstehe gut, viel zu gut, wovon du sprichst, was du erzählt hast. Daher glaube ich, dass wir uns auf einem ähnlichen Weg befinden. Vielleicht gelingt es uns, ein Stück davon gemeinsam zu gehen. Vielleicht…“
Er schwieg, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, wartete auf Antwort.
„Ja“, stieß Marvin hastig, etwas zu hastig hervor. „Ja, das würde ich gerne. Ich würde gerne…“
Doch Ian hatte sich bereits zu dem Blonden herüber gelehnt, verschloss seinen Mund mit einem weiteren Kuss. Und Marvins Arme wanderten wie von selbst den starken Rücken hinauf, umschlangen den Dunkelhaarigen fest und sicher, bezeugten und bestätigten das gegebene Versprechen, das mehr verhieß als ein Weihnachten, auf das es sich zu freuen lohnte. Ein Versprechen, das eine Zukunft in Aussicht stellte, zum ersten Mal in seinem Leben eine wirkliche Zukunft.
Ende
Augenblicke
Thomas hielt ihn fest, fester als er ihn je zuvor gehalten hatte.
„Wieso hast du mir das nie erzählt“, flüsterte er mit erstickter Stimme und barg sein Gesicht an der Schulter des anderen, als sei er es, der getröstet werden müsse.
„Wie konntest du mir das verheimlichen?“
Will versuchte, sich von den umstrickenden Armen zu befreien, doch zu stark war der Griff des
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