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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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weiterschneiden, und bis ich sie alle gefunden habe, hätte ich ihn völlig zerschnitten, und auch dann würde ich sie nicht alle entdeckt haben.«
    »O Gott!« murmelte Delagard. »Wie lang kann er damit leben?«
    »Bis einer von ihnen das Herz erreicht, vermute ich. Und das wird nicht lang dauern.«
    »Meinst du, er spürt was?«
    »Ich hoffe, nein«, sagte Lawler.
    MARTELLOS AGONIE dauerte noch fünf Minuten. Noch nie waren Lawler fünf Minuten derart endlos vorgekommen. Hin und wieder zuckte Martello und bäumte sich auf, wenn ein größeres Nervenbündel attackiert wurde; einmal sah es sogar aus, als wollte er vom Deck auffliegen. Danach gab er ein leises Seufzen von sich, sank zurück, und das Licht in seinen Augen erlosch.
    »Es ist vorbei«, murmelte Lawler. Er fühlte sich benommen, ausgehöhlt, erschöpft. Er war über alle Betrübnis, über allen Schock hinaus.
    Wahrscheinlich, dachte er, war da sowieso nicht die geringste Chance, Martello zu retten. Es müssen mindestens zehn, zwölf von diesen Aalen in ihn eingedrungen sein, höchstwahrscheinlich viel mehr, ein ganzer Schwärm, die blitzschnell durch seinen Mund oder den Anus hineinglitten und sich zielstrebig durch Fleisch- und Muskelgewebe bis ins Zentrum seines Unterleibes vorarbeiteten. Lawler hatte neun Teile von diesen Wurmaalen extrahiert; aber die übrigen waren noch da und am Werk in Martellos Bauchspeicheldrüse, der Milz, der Leber, den Nieren. Und wenn sie mit diesen Organen, den ‚Delikatessen’, fertig sind, dann machen sie sich mit ihren rötlichen Raspelzungen über den Rest seines Körpers her. Nein, kein chirurgischer Eingriff - und wäre er noch so schnell und fehlerfrei durchgeführt worden - hätte ihn rechtzeitig von diesen Parasiten befreien können.
    Neyana brachte eine Decke, und sie wickelten Leo Martello hinein. Kinverson nahm die Leiche in die Arme und ging damit auf die Bordwand zu.
    »Warte!« sagte Pilya. »Gib ihm das mit.«
    Sie hielt ein Bündel Papierblätter in der Hand. Sie hatte sie wahrscheinlich aus Martellos Kajüte heraufgebracht. Sein berühmtes Gedicht. Sie schob das gefaltete zerfledderte Manuskriptbündel unter die Decke und zog die Falten wieder glatt. Lawler dachte flüchtig daran, Einwände dagegen zu erheben, tat es aber dann nicht. Soll es doch mit ihm dahingehen. Es ist sein Gedicht.
    Father Quillan sprach: »Und nun übergeben wir den Leib unseres innig geliebten Leo dem Meer, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes...«
    Schon wieder dieser ‚heilige Geist’? Jedesmal wenn er diese Phrasen aus Quillans Mund hörte, fühlte Lawler sich aufs neue gereizt. Es war eine derart absurde Vorstellung, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach nicht begreifen, was ein ‚heiliger Geist’ sein mochte. Er schüttelte den Gedanken ab. Für derlei spirituelle Spekulationen war er im Moment sowieso viel zu erschöpft.
    Kinverson trug den Leichnam zur Reling und hob ihn hoch. Dann versetzte er dem Kokon einen kleinen Schubs, und er flog hinüber und klatschte in die See.
    Sofort erschienen unbekannte Kreaturen wie durch einen Zauberspruch aus der Tiefe. Langgestreckte, schlanke mit Finnen ausgerüstete Wasserwesen, die von einem dichten, seidigschwarzen Fell bedeckt waren. Es waren ihrer insgesamt fünf. Geschmeidige Tiere, sanftäugig, mit dunklen flachen Schnauzen, die von zuckenden schwarzen Schnurrbarthaaren bedeckt waren. Sacht und behutsam umringten sie den treibenden Martello, hoben ihn hoch und begannen ihn aus der umhüllenden Decke zu wickeln. Behutsam, fast zärtlich entblößten sie ihn. Und dann - sanft und beinahe zärtlich - scharten sie sich um den bereits erstarrenden Körper und machten sich daran, ihn zu verzehren.
    Es geschah ganz still und gelassen, ganz ohne irgendwelche wütende, unappetitliche Freßgier. Es war entsetzlich und doch zugleich in einer gewissen unheimlichen Weise schön. Ihre Bewegungen wirbelten die See zu einer außergewöhnlich starken Phosphoreszenz auf. Es sah aus, als werde Martello von einem kühlen scharlachroten Flammenregen aufgezehrt. Und langsam explodierte sein Leib in Licht. Diese Geschöpfe demonstrierten eine Anatomiestunde: Sie schälten ihm die Haut mit höchster Sorgfalt ab, legten die Gelenke, Bänder, Muskeln und Nerven bloß. Dann drangen sie tiefer vor. Der Anblick war bestürzend, selbst für Lawler, für den auch die tieferen Bereiche des menschlichen Körpers kein Geheimnis waren; doch die Arbeit wurde dermaßen

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