Über den Wassern
Sundira. »Bist du es auch?«
»Mehr oder weniger, ja. Aber die schlimmen Phasen werden wiederkommen. Das wird ein langes Ringen werden.« Doch als der Schub dann wieder einsetzte, war er weniger heftig als vorher. Lawler fand keine Erklärung dafür. Er hatte mit drei, vier, fünf Tagen sogar von äußerst entsetzlichen Qualen gerechnet, auf die dann - vielleicht - eine stufenweise Linderung der Tortur folgen würde, während sein Metabolismus sich mehr und mehr von der Sucht entwöhnte. Aber dies war ja erst der zweite Tag.
Und wieder dieses Gefühl eines Eingreifens von außerhalb, des Geführtseins, Gestütztseins, als zöge ihn etwas aus seinem Morast.
Dann wieder die Anfälle von Tremor und Schwitzen. Und danach eine neuerliche Periode der Erholung, die fast einen halben Tag anhielt. Er wagte sich an Deck und genoß die frische Luft und wanderte langsam auf und ab. Zu Sundira sagte er, daß er glaube, allzu leicht davonzukommen.
»Sei dankbar«, sagte sie.
Als die Nacht kam, litt er wieder. Auf und ab, an und aus. Aber insgesamt sah der Verlauf günstig aus. Er schien auf dem Wege der Erholung zu sein. Und am Ende der Woche traten nur noch ab und zu kurze Momente des Unwohlseins auf. Er betrachtete die leere Drogenflasche - und grinste.
DIE LUFT WAR KLAR, der Wind wehte kräftig. Die Queen of Hydros zog rasch weiter auf ihrem Südwestkurs um die Wasserkugel.
Tag für Tag, ja beinahe Stunde um Stunde, nahm die Phosphoreszenz im Meer zu. Die ganze Welt begann zu leuchten. Wasser und Himmel schimmerten Tag und Nacht. Alptraumhafte Geschöpfe von einem Halbdutzend unvertrauter Spezies brachen aus dem Wasser, segelten kurz über sie hinweg und landeten unter gewaltigem Spritzen in der Ferne. Riesige Mäuler gähnten in der Tiefe.
Die meiste Zeit herrschte Schweigen an Bord der Queen. Alle gingen ruhig und tüchtig ihren Pflichten nach. Und es gab viel zu tun, denn es waren jetzt ja nur noch elf Mann übrig, um die Arbeit der vierzehn zu tun, die beim Start an Bord gewesen waren. Der übermütige, fröhliche, optimistische Leo Martello hatte den übrigen weitgehend den Ton angegeben; mit seinem Tod änderten sich unvermeidlicherweise die Dinge.
Außerdem kam dieses ‚Antlitz’ näher (oder sie ihm). Auch dies mußte etwas mit der zunehmend düsteren Stimmung zu tun haben, dachte Lawler.
Noch konnte man nichts von dem Land hinter dem Horizont entdecken, aber alle wußten, daß es dort, nicht weit entfernt, wartete. Jeder spürte das. Es lag wie ein fühlbares Numen über dem Schiff. Seine Wirkungen waren unbestimmbar, aber unverkennbar. Hier ist etwas, dachte Lawler immer wieder, und es ist mehr als eine bloße Insel. Es ist etwas mit einem wachsamen Bewußtsein. Und wartet auf uns.
Er schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Unsinnige Phantastereien, Spuk aus Fieberträumen, törichte substanzlose Gedanken. Ich leide immer noch unter Entzugserscheinungen, sagte er sich. Und er war sehr wackelig, energielos und fühlte sich verwundbar.
Aber sein Kopf beschäftigte sich weiter mit dem ‚Antlitz’. Er mühte sich, aus seiner Erinnerung zu graben, was Jolly ihm vor langer, langer Zeit über »das Feste über den Wassern« erzählt hatte; doch alles blieb undeutlich und verschwommen unter den dreißigjährigen Erinnerungsschichten. Ein wildes Wunderland, hatte Jolly. gesagt. Voll von Pflanzen, die ganz anders waren als jene, die im Meer wuchsen. Aber Pflanzen. Unbekannte Farben, helles Licht, das Tag und Nacht schien, ein fremdartiges Reich, fern am Ende der Welt, wunderschön und unheimlich. Hatte Jolly etwas über Tiere gesagt? Irgendwelche landbewohnende Wesen? Nein, nichts, woran Lawler sich erinnern konnte. Kein tierisches Leben, nur dichter Dschungel.
Aber da war doch noch etwas gewesen, etwas über eine Stadt...
Nicht auf dem Land. Sondern in der Nähe.
Wo? Im Ozean? Das vermochte er sich nicht vorzustellen. Er versuchte sich an die Tage zu erinnern, die er mit Jolly am Wasser verbracht hatte, an den ledergesichtigen sonnenverbrannten alten Mann, der mit wiegendem Oberkörper unermüdlich die Angelhaken auswarf und unermüdlich redete und redete...
Eine Stadt. Eine Stadt im Meer. Unter dem Meer...
Lawler bekam ein Endchen der Erinnerung zu fassen, es entglitt ihm wieder, er stürzte sich darauf, bekam es nicht in den Griff, er griff erneut zu...
Eine Stadt unter dem Meer. Ja. Ein Tor im Ozean, das sich einem Gang öffnet, irgendeine Art von Schwerkraftschacht, der hinab zu einer
Weitere Kostenlose Bücher