Über den Wassern
jetzt brauchte. Sein Haus und ein Frühstück - und vielleicht ein oder zwei Tröpfchen von seiner Taubkraut-Tinktur. Und danach die tägliche Tretmühle.
Er machte sich hangaufwärts auf den Weg.
Weiter im Inselinnern waren bereits Leute auf und unterwegs.
Niemand schlief hier noch lang nach der Morgendämmerung. Die Nacht war zum Schlafen da, am Tag wurde gearbeitet. Auf dem Weg zu seinem Vaargh und zu dem morgendlichen Schub echt Leidender und chronischer Wehleidiger, der sich bei ihm einfinden würde, stieß Lawler auf einen signifikanten Prozentsatz der menschlichen Inselpopulation und grüßte jeden. Hier am Schmalende des Eilands, wo die Menschen hausten, hockte man sich sozusagen die ganze Zeit gegenseitig im Nacken.
Die meisten Leute, denen er zunickte, während er die sanfte Steigung des festen hellgelben Flechtpfades hinaufwanderte, waren Menschen, die er seit Jahrzehnten kannte. Fast die ganze Humanpopulation auf Sorve war auf Hydros geboren, und davon wieder war über die Hälfte direkt hier auf der Insel zur Welt gekommen. Genau wie auch Lawler selbst. Und die meisten hatten sich nicht ausdrücklich dafür entschieden, ihr gesamtes Leben auf diesem fremden Wasserball zu verbringen, taten es aber dennoch, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Die Lebenslotterie hatte ihnen schlicht bei ihrer Geburt das Ticket für Hydros ausgespielt, und sobald man erst mal auf Hydros war, konnte man nie wieder von hier fort, denn es gab keine Raumflughäfen und man konnte den Planeten nur auf einem Weg verlassen: durch den Tod. Die Geburt hier bedeutete die Verurteilung zu ‚Lebenslänglich’. Dies war seltsam in einer Galaxie voller bewohnbarer und bewohnter Welten - daß einem keine Chance gegeben wurde, selbst zu wählen, wo man gern leben wollte... Aber dann gab es da noch die anderen, die von draußen in Landekapseln hereingeplatzt kamen, und die hatten die Wahl gehabt und hätten überallhin gehen können im Universum und hatten sich trotzdem für diesen Planeten entschieden, obwohl sie wußten, daß es für sie kein Zurück gab. Das war sogar noch seltsamer.
Dag Tharp, der die Radiostation betrieb, nebenbei als Zahntechniker arbeitete und Lawler gelegentlich als Anästhesist assistierte, kam als erster vorbei. Er war ein schmächtiger, kantiger Typ, rotgesichtig, von zerbrechlichem Aussehen, mit einem dürren Hals und einer großen scharfgebogenen Schnabelnase, die zwischen kleinen Augen und praktisch fleischlosen Lippen hervorragte. Weiter hinten tauchte Sweyner auf dem Knüppelpfad auf, der Werkzeugmacher und Glasbläser. Ein kleiner alter Knabe, verknöchert und verwittert. Und hinter ihm kam sein verknöchertes, verwittertes Weibchen, das aussah, als wäre sie seine Zwillings-Schwester. Unter den jüngeren Siedlern gab es einige, die unterstellten, daß sie das wirklich sei, doch Lawler wußte es besser. Sweyners Frau war seine eigene Großkusine, und Sweyner war mit ihm - oder ihr - in keiner Weise verwandt. Die Sweyners, ähnlich wie Tharp, waren beide gebürtige Hydrosianer, ja sogar Sorvesen. Es war zwar ein wenig regelwidrig endogam, eine Frau von der eignen Insel zu ehelichen, wie Sweyner das getan hatte... Wahrscheinlich war das die Ursache - neben der physischen Ähnlichkeit der beiden - für derartigen Tratsch.
Mittlerweile war Lawler der Hauptterrasse, die das aufragende Rückgrat der Insel bildete, nahegekommen. Eine breite hölzerne Rampe führte dort hinauf. Auf Sorve gab es keine Treppen: Die zum Gehen wenig tauglichen Stummelbeine der Gillies eigneten sich auch nicht fürs Treppensteigen. Lawler stieg die Rampe rasch hinan, dann trat er auf die Terrasse, ein flaches Terrain aus steifen, festen, dichtverflochtenen gelben Fasern des Seebambus. Die Terrasse war fünfzig Meter breit, lackversiegelt und laminiert mit Seppeltan-Extrakt und ruhte auf einem Gerüst aus schweren Schwerzkelp-Balken. Die lange schmale Hauptstraße der Insel verlief darüber. Eine Linkswendung führte zu dem von den Gillies bewohnten Bereich der Insel, nach rechts ging es zur Barackensiedlung der Menschen. Lawler wandte sich nach rechts.
»Guten Morgen, Herr Doktor«, brummelte Natim Gharkid, zwanzig Schritt weiter vorn auf dem Weg und trat beiseite, um Lawler vorbeizulassen.
Gharkid war vor vier, fünf Jahren von einer anderen Insel nach Sorve gekommen. Ein Mann mit sanften Augen, einem weichen Gesicht und glatter dunkler Haut, dem es bislang irgendwie noch nicht gelungen war, sich auf irgendeine signifikante
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