Über den Wassern
Mittsommer machte die Vertreibung von der Insel nur um so schmerzhafter spürbar... man entzog ihnen die schönste Zeit des ganzen Jahres.
Aber das war schließlich die Geschichte der Menschheit von Anfang an, nicht wahr? dachte er. Ein Rausschmiß nach dem anderen. Vom Paradiesgarten Eden an ein Exil nach dem anderen.
Und wie er da so über die Bucht in all ihrer Schönheit blickte, verspürte er scharf ein erneutes Verlustgefühl: Sekunde um Sekunde stürzte sein Leben auf Sorve unwiederbringlich von ihm fort. Zwar fühlte er gleichzeitig auch noch diese seltsame Erregung bei der Vorstellung vom Beginn eines neuen Lebens an anderem Ort, wie in der ersten Nacht, aber doch nicht unablässig.
Er dachte über Sundira nach. Wie es sein mochte, mit ihr zu schlafen. Es wäre absurd, sich nicht einzugestehen, daß er sich von ihr angezogen fühlte. Diese langen glatten Beine, der schlanke geschmeidige Athletenkörper. Ihre Energie, die knappe, selbstbewußte Art. Er stellte sich vor, daß er mit den Fingern über die kühle glatte Haut an der Innenseite ihrer Schenkel streichle. Daß er den Kopf in die Grube zwischen Schulter und Hals bette. Die kleinen festen Brüste unter seinen Händen, die kleinen Brustwarzen, die sich gegen seine Handflächen aufrichteten. Wenn Sundira sich der Liebe nur halb so energisch widmete wie dem Schwimmen, dann mußte sie sensationell sein.
Seltsam, dieses Verlangen nach einer Frau, auf einmal wieder. Er hatte nun so lange schon autonom und selbstgenügsam gelebt. Wenn er jetzt diesem Verlangen nachgab, bedeutete dies, daß er ein Stück seiner sorgsam aufgebauten Schutzpanzerung preisgeben müsse. Doch der Abschied von der Insel hatte alles mögliche ans Licht gespült, was in seiner Seele bisher ruhig geschlummert hatte.
NACH EINER WEILE merkte Lawler, daß mindestens zehn Minuten verstrichen sein mußten, vielleicht sogar mehr, und er hatte Sundira nicht ein einziges Mal auftauchen und Luft holen sehen. So etwas schaffte nicht einmal eine sehr starke Schwimmerin, jedenfalls keine menschliche. In plötzlicher Angst suchte er die Wasserfläche nach ihr ab.
Dann sah er sie auf dem Deichweg von links her auf ihn zukommen. Die dunklen feuchten Haare waren straff im Nacken zusammengerafft, und sie trug ein loses blaues Wickelkleid aus Kriechtang, das vorn offenstand. Sie mußte nach Süden geschwommen und direkt neben der Bootswerft über die Rampe an Land gestiegen sein, ohne daß er es bemerkt hatte.
»Was dagegen, wenn ich mich dir anschließe?« fragte sie.
Lawler machte eine einladende Handbewegung. »Hier ist genug Platz.«
Sie trat an seine Seite und lehnte sich wie er mit den Ellbogen auf die Brüstung gestützt nach vorn und blickte aufs Wasser hinaus.
»Du hast so ernst dreingesehen, vorhin, als ich vorbeigeschwommen bin. So tief in Gedanken.«
»Wirklich?«
»Warst du?«
»Ich nehm es an.«
»Über große Dinge nachdenkend, Doktor?«
»Ach, eigentlich nicht. Ich hab bloß so gedacht.« Er war nicht so recht bereit, ihr zu eröffnen, was ihm vorhin durch den Kopf gegangen war. »Ich hab versucht, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß ich hier fort muß«, improvisierte er rasch. »Wieder ins Exil gehen zu müssen.«
»Wieder?« fragte sie. »Das versteh ich nicht. Was soll das heißen: wieder? Mußtest du früher schon einmal von einer Insel fort? Ich dachte, du lebst schon immer auf Sorve.«
»Das stimmt. Aber das diesmal ist für uns insgesamt das zweite Exil, nicht wahr? Erst wurden unsere Vorfahren von der ERDE vertrieben. Und nun wir von unserer Insel.«
Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn verwirrt an. »Wir sind keine Exilanten der ERDE. Kein ERDEgeborener hat sich je auf Hydros niedergelassen. Die ERDE wurde hundert Jahre vor der Ankunft der ersten Menschen hier schon zerstört.«
»Das spielt keine Rolle. Wir kommen alle ursprünglich von der ERDE, wenn du bis zum Anfang zurückgehst. Und wir haben sie verloren. Das ist wie ein Exil. Ich meine, für uns alle, für jeden einzelnen Menschen, für alle, auf welcher Welt im Raum sie auch leben.« Und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Schau, wir hatten einst eine Mutter-Welt, einen gemeinsamen Ursprungsplaneten, und er ist dahin, zerstört und vernichtet. Ausgelöscht. Nichts ist mehr übrig als die Erinnerung... und eine ziemlich verschwommene überdies... nichts, nur ein paar Händevoll kleinster Trümmerstücke wie jene, die du in meinem Vaargh gesehen hast. Mein Vater erzählte uns
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