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Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition)

Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition)

Titel: Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Bekker
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Blickrichtung änderten. Ein junger, hochgewachsener Mann mit gelocktem Haar und einem dunklen Oberlippenbart betrat den Raum. Er trug einen Frack. An seiner Kleidung schien alles bis auf den Millimeter genau ausgerichtet zu sein. Das Stecktuch, die Brosche, die Schleife... Er wirkte etwas steif in seinem Auftreten. Sein Gesicht war von derselben, eigentümlichen Blässe wie das aller anderen im Raum.
    Er hob leicht die Hand, um die Ovationen entgegenzunehmen. Lady Mary hakte sich bei Tom unter.
    "Das ist Dostan Radvanyi, den der Kritiker der Times für den größten lebenden Pianisten hält. Selbst Chopin soll sich lobend über ihn geäußert haben... Lauschen wir seinem virtuosen Spiel..."
    Dostan Radvanyi verbeugte sich, schritt zum Flügel, setzte sich und begann dann in die Tasten zu greifen.
    Dissonante, unheimliche Harmonien, die einen an die Dunkelheit in der Tiefe der Meere oder den finsteren Schlund einer unergründlichen Höhle denken ließen, drangen an mein Ohr.
    Ich beobachtete die Gesichter der anderen Anwesenden. Sie wirkten angestrengt und sehr konzentriert. Lady Marys Blick wurde etwas verklärt. Sie wandte den Kopf und sah zu Tom herüber.
    Wo sind wir hier?, ging es mir schaudernd durch den Kopf. Auf Delancie Castle. Aber was bedeutet das schon? Der Name eines grauen Gemäuers, mehr nicht...  
    Ich fühlte mich, wie in einem schrecklichen Alptraum gefangen.
    Aber gleichzeitig herrschte die Gewissheit in mir, dass ich aus dieser Alptraumwelt nicht durch ein einfaches Erwachen entkommen konnte.
     
    *
     
    Lady Mary sah Tom an.
    "Es ist spät geworden, aber ich bin überzeugt davon, dass wir noch viel Zeit haben werden." Sie seufzte. "Ich weiß, du wirst etwas verwirrt sein und es wird dir gewiss nicht leicht fallen, dich an das Leben auf Delancie Castle zu gewöhnen."
    "Sie irren sich, Lady Mary", sagte Tom. "Ich werde nicht hierbleiben. Es mag sein, dass ich dich geliebt habe in einem anderen Leben. Aber jetzt bin ich nicht mehr Lord William Thomas Millroy, sondern Thomas Hamilton, ein Mann, der in einer anderen Zeit lebt. Und eine andere Frau liebt."
    "Das alles hat keine Bedeutung", behauptete Lady Mary Delancie mit einem Lächeln, dessen Süßlichkeit durch eine grausame Note verwässert wurde. "Wie gesagt, Tom. Du bist verwirrt. Aber du wirst noch erkennen, was deine wahre Bestimmung ist. Heute Nacht jedenfalls wirst du hier bleiben, denn es gibt keine Möglichkeit zur Rückkehr. Und das wisst ihr!" Sie machte eine kurze Pause. Ihr Blick wirkte ernst. Sie atmete tief durch. Sie hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, die mich erschreckte.
    Als ob bereits jetzt feststünde, das alles genau so geschieht, wie sie es gesagt hat!, ging es mir schaudernd durch den Kopf.
    Dann sagte sie schließlich: "Der Butler wird euch eure Quartiere zeigen."
    Der Butler trat etwas heran.
    Sein Gesicht blieb wie gewohnt regungslos und maskenhaft.
    "Wenn die Herrschaften mir bitte folgen wollen", sagte er dann.
    Lady Mary hauchte: "Ich wünsche dir eine gute Nacht, Tom."
    Tom erwiderte nichts.
    Wir folgten dem Butler durch einen langen Flur. Dann ging es eine steile Treppe hinauf, deren einzelne Stufen unter unserem Gewicht knarrten. Tom wandte sich an den Butler und fragte ihn: "Woher wusste Lady Mary, dass wir hier auftauchen würden?"
    Der Butler hielt auf einem Absatz an. Er drehte sich halb herum. "Sie wusste es einfach, Sir."
    "Verfügt sie vielleicht über so etwas wie eine übersinnliche Begabung?", fragte ich.
    "Ich bin nicht befugt, über meine Herrschaft zu sprechen", erwiderte der Butler dann im Tonfall klirrender Kälte. "Das sind alles Fragen, die Sie Lady Mary selbst stellen sollten. Aber ich bin gewiss, dass sich dafür noch ausreichend Gelegenheit ergeben wird."
    Der Flur, den wir jetzt betraten, war sehr hoch. Er wirkte herrschaftlich.
    Der Butler entzündete einige Lampen, die alles in ein weiches Licht tauchten. Dann hatten wir eine große, schwere Tür erreicht, deren Holz mit absonderlichen Schnitzereien versehen war. Eigenartige Fabelwesen rankten sich empor. Ihre Gesichter waren derart überzeugend aus dem Holz herausgearbeitet worden, dass man befürchten konnte, sie würden jeden Augenblick zum Leben erwachen. Dämonenhafte, fratzenartige Gesichter, die uns auf eine Weise anzustarren schienen, die mir nicht gefiel.
    "Hier ist ihr Quartier, Lord Millroy", sagte der Butler. Er schloss die Tür auf.
    Wir betraten den Raum.
    Es war ein sehr weitläufiges, herrschaftlich eingerichtetes

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