Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
lassen, war ihm Moreaus Notizbuch aus der Tasche gefallen. Es hatte sich selbst bei einer Seite aufgeschlagen, auf der ein Bild war, das Voynich darin noch nie gesehen hatte: Es stellte einen Weisen mit dem Gesicht eines Jungen dar. Unwillkürlich hatte der Chef der Brandstifter seine Hand auf das Bild gelegt und zugehört.
»Warum befinden sich die Türen zur Zeit in Kilmore Cove?«, fragte der junge Weise.
»Als die Mehrheit der erträumten Völker dafür stimmte, die Türen zur Zeit für immer zu vernichten, waren nicht alle mit dieser Entscheidung einverstanden. Einige von ihnen gingen an Bord schrecklicher schwarzer Schiffe und überquerten die Meere, um die Türen in Sicherheit zu bringen. Andere vergruben ihre Türen in den Tiefen der Erde. Acht wurden gerettet und nach Kilmore Cove gebracht. Fernab von der Welt waren sie dort lange Zeit sicher, und eines Tages vergaßen die Menschen sogar, dass es sie gab. Doch weil die Neugier gleichzeitig die erste Tugend und die erste Sünde der Menschheit ist, fanden einige Menschen die Türen und öffneten sie. Dann verschlossen sie die Türen wieder. Und öffneten sie erneut.«
»Warum wurden sie verschlossen? Sind sie wirklich so gefährlich?«
»Die Türen eröffnen nur einen Weg. Es ist derjenige, der sie benutzt und über ihre Schwellen tritt, der sie gefährlich werden lassen kann. Die Türen verkürzten Entfernungen und erleichterten den Kontakt zwischen Menschen. Und viele von denen, die gegen die Türen gestimmt hatten, bereuten es später. Denn nach und nach ging das Wissen über die Straßen verloren, über die die erträumten Orte zu erreichen waren. Und die Bewohner dieser Orte ertrugen früher oder später die Einsamkeit nicht mehr und gingen weg. Und verurteilten die erträumten Orte dadurch zum Tode.«
»Ist das Städtchen Kilmore Cove denn auch ein erträumter Ort?«, fragte der Weise mit dem Gesicht eines Jungen.
Und antwortete auf seine Frage: »Noch nicht, auch wenn einige versuchten, ihn dazu zu machen. Es ist ein realer Ort, der zu einem erträumten Ort werden könnte, wenn kein Reisender, der ihn sucht, ihn mehr erreichen kann. Und schließlich wird das, was vergessen wurde, für immer verloren sein. Und damit nicht nur der Ort, sondern auch seine Türen.«
»Ist das also der Grund«, fragte der junge Weise, »warum es gut und sinnvoll ist, wenn möglichst viele das Geheimnis von Kilmore Cove kennen?«
Und die Antwort darauf war: »Wenn die Arbeit der Erbauer der Türen nicht gänzlich in Vergessenheit geraten soll, ist dies der einzige Weg, es zu verhindern.«
Als Anita atemlos in die Klinik zurückkehrte, um ihrem Vater zu sagen, dass die Villa Argo brannte, saß er mit Morice Moreaus Notizbuch in der Hand auf seinem Bett.
»Ich höre ihn sprechen«, sagte er lächelnd.
»Und was sagt er?«, fragte Anita und setzte sich neben ihn.
»Ich wüsste gerne, ob einer der Freunde des Großen Sommers hierhergekommen ist«, fragte Jason gerade.
»Nur ein einziger. Er kam und stellte seine Fragen. Und als er von hier wegging, vergaß er seine Fragen wieder. «
»War es Penelope Moore?«, fragte der Junge.
Die Antwort war eindeutig: »Nein.«
»Ich habe noch einige Fragen«, fuhr Jason fort. »Ist Penelope Moore noch am Leben?« Und antwortete sich: »Ja.«
»Warum ist sie dann nicht nach Hause zurückgekehrt?«
»Weil sie den Weg nicht mehr weiß.«
»Und was ist eigentlich das große Geheimnis von Kilmore Cove?«, fragte Jason schließlich.
»Das Geheimnis der Erbauer der Türen ist ein sehr einfaches. Es besteht darin, sich zu erinnern. Doch das Erinnern ist eine Schlacht, die schon verloren ist, bevor sie ausgetragen wurde. Wenn man auswählt, was man mitnehmen will, entscheidet man gleichzeitig, was man zurücklässt. Was man am Leben lässt und was man tötet. Wir alle müssen in der Lage sein, das zu tun. Aber wie kann man auswählen, woran man sich erinnern soll? Dafür gibt es keine Regeln. Die Dichter sagen, dass man sich an die Schönheit erinnert, an die Liebe, an Gefühle und Schmerzen. Die Maler erinnern sich an die Farben und an die Nacht. Die Musiker erinnern sich an Klänge, einschließlich des lautesten Klangs von allen, der unseres Herzens. Vielleicht besteht das Geheimnis ja darin, dass man sich an sein Herz erinnert und an das, was es veranlasst, am heftigsten zu klopfen.«
Nachdem er diese Antwort gehört hatte, klappte Mr Bloom das Notizbuch zu und umarmte seine Tochter.
Kapitel 32
Der Übersetzer
Das Klingeln
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