Unbekannt verzogen: Roman
daran denken: Es ist kalt draußen. Also kein Herumvagabundieren mehr, verstanden?«
67
Carol hat Helen ihre Telefonnummer gegeben; sie hat sich überzeugen lassen, dass Bob und Sophie wissen müssen, wo sie ist. Es kann ja sein, dass sie mit ihr reden wollen, und eigentlich würde sie sich gern mit ihnen aussprechen, auch wenn es ihr vor dem Gespräch graut. Als das Telefon dann tatsächlich klingelt, nimmt sie natürlich an, es sei Bob.
Das harsche Schrillen, das ihr nichts Gutes zu verheißen scheint, lässt sie sekundenlang zögern, bevor sie zum Hörer greift. Als sie schließlich doch abhebt, weiß sie noch immer nicht, wie sie sagen soll, was gesagt werden muss.
»Bob?«
»Carol? Pfui, schäm dich.« Es ist Deirdres Stimme, beißend und giftig in ihrer Wut.
»Mutter …«
»Wie konntest du nur, Carol? Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Carol schließt die Augen. Sie weiß nicht, ob sie sich zu einer Antwort durchringen oder die Ohren einfach auf Durchzug stellen soll. Die Attacke ist so unerwartet und heftig über sie gekommen, dass ihr ganz flau zumute ist.
»Einen kranken Mann im Stich zu lassen.«
»Er hat es dir gesagt?«
»Irgendjemand musste es tun. Und du hast es ja offenbar nicht für nötig befunden. Ich fasse es nicht – ihn in dieser Situation zu verlassen …«
»Herrgott noch mal, Bob ist ein erwachsener Mann. Ich weiß, es war dumm von mir, einfach wegzulaufen, aber noch dümmer war es, dass ich ihn überhaupt geheiratet habe. Du als meine Mutter müsstest das eigentlich verstehen.«
»Bob ist immer gut zu dir gewesen. Du kannst von Glück sagen, dass du ihn hast.«
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich liebe ihn nicht. Ich habe ihn nie geliebt.«
»Du hast ihn geheiratet.«
»Weil ich schwanger war! Man braucht keine Liebe zum Ficken.«
»Nicht dieses Wort.«
»Er hat mich gefickt, ich bin schwanger geworden, und in einem Anfall geistiger Umnachtung habe ich gedacht, ich wäre es aller Welt schuldig, mein Leben mit ihm zu teilen. Ich weiß nicht, seit wann du dir einredest, dass ich ihn aus Liebe geheiratet habe, aber das war ja schon immer dein Problem, nicht wahr? Verrücktes Zeug zu glauben.«
»Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass du was gegen mich hast.«
»Endlich nimmt die Frau Vernunft an.«
»Aber vielleicht bin ich auch enttäuscht von dir .«
»Kann sein. Der Unterschied ist bloß, dass du nicht halb Croydon ficken musstest, um dich von mir zu befreien.«
Fassungsloses Schweigen in der Leitung. Dann ersticktes Schluchzen, durch ein Taschentuch gedämpft, das Deirdre wohl aus Versehen vor die Sprechmuschel geraten ist. »Warum bist du immer so gemein?«
»Und warum können wir nie ehrlich miteinander reden? Ich hab das Gefühl, mein Leben ist ein Tatort, und überall sind deine Fingerabdrücke drauf.«
»Und dass ich vielleicht auch nicht glücklich bin, hast du daran schon mal gedacht? Vielleicht habe ich mir auch alles ganz anders vorgestellt. Dich, deinen Vater. Ich wusste, es war ein Fehler, mit ihm vor den Traualtar zu treten, aber hat mich etwa deswegen schon mal jemand klagen hören?« Während ihre Worte nachschwingen, scheint die Zeit stillzustehen, selbst in den Straßen von Athen. »Darum erwarte ich ja auch so sehnlich die Wiederkunft des Herrn«, setzt sie hinzu. Sie klingt wie ein einsames, verirrtes Kind. »Dann wird alles wieder gut.«
Zum allerersten Mal wünscht Carol sich plötzlich an Deirdres Seite. So gern sie sonst auf ihre Gesellschaft verzichten kann, würde sie sie jetzt am liebsten in den Arm nehmen und ihr sagen, dass auch ihr Leben – das einzige, das sie hat – um vieles besser sein könnte, wenn sie es nur zuließe. Da Deirdre nicht imstande ist, wie eine Erwachsene zu denken, hat es keinen Sinn, ihr ihre religiöse Verblendung vor Augen zu halten oder ihr klarmachen zu wollen, in welchem Maße die Vergangenheit ihre Gegenwart prägt. Biologisch ist Deirdre die Mutter, aber in jeder anderen Hinsicht muss Carol für sie eine Mutter sein. »Es tut mir leid, dass du unglücklich bist«, sagt sie mit ungewohnter Selbstsicherheit. »Aber weißt du, wenn du willst, dass wir uns besser verstehen, musst du dir auch ein bisschen Mühe geben.«
»Ich freue mich doch immer, wenn wir uns sehen.«
»Ja, sicher. Aber das reicht nicht. Sich gut zu verstehen ist nicht selbstverständlich, dafür muss man sich anstrengen.«
»Ja, ja, natürlich.«
»Wir müssen uns gegenseitig verzeihen und einen neuen Anfang machen. Was vorbei
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