Unbekannt verzogen: Roman
Tochter wäre, und Sophie, die zufrieden vor sich hin gluckst, weil sie spürt, dass sie mit glücklichen Menschen zusammen ist.
Und Carol war glücklich, endlich kann sie es zugeben, glücklich mit Richard, aber auch mit Sophie. Mutter und Tochter hatten so froh, so sorglos miteinander gespielt.
»Ich will dich heiraten.« Das hat er damals gesagt, als sie zu dritt im Gras lagen.
»Ich bin schon verheiratet.«
»Nein, bist du nicht. Du vegetierst nur vor dich hin. Aber ich möchte, dass du lebst , mit mir und Sophie.« Das war typisch für Richard, sanft und mit einem Lächeln über ihr Leben abzurechnen. »Lass dich scheiden. Heirate mich.«
»Können wir unsere Flitterwochen in Athen verbringen?«
»Ah, Romantik zwischen Altertümern.«
»Ich möchte so gern den Parthenon sehen. Dich vor dem Parthenon küssen.«
Heute wie damals macht Bob den schönen Moment zunichte, lässt sie auf die Realität des kalten Friedhofsbodens knallen. Sie liegt nicht mehr in den Armen des Mannes, den sie geliebt hat, sondern lehnt an seinem Grabstein. Unruhig dreht sie ihren Ehering hin und her; wie immer zerrinnt ihr die Zeit zwischen den Fingern.
»Bob hat Krebs. Zum Glück nicht dieselbe Art Krebs, die Du hattest. Ich frage mich manchmal, ob mir das Universum damit etwas sagen will. Obwohl es das ja eigentlich den Männern in meinem Leben sagen müsste. ›Verliebt euch nicht in diese Frau, sonst müsst ihr sterben.‹«
»Ich glaube, dass ich ihn deshalb so umhege und umsorge, weil ich es für dich nicht tun konnte.« Sie lächelt traurig. »Ist das nicht verrückt? All die Jahre habe ich es bedauert, nicht vor meinem dreißigsten Geburtstag Witwe geworden zu sein. Und dabei quält mich noch immer der Gedanke, dass du vielleicht gar nicht gestorben wärst, wenn ich für dich dagewesen wäre.«
Sie atmet ein paar Mal tief durch, um die Erinnerungen so weit zurückzudrängen, bis der Schmerz erträglich ist.
»Darum habe ich Sophie den Brief geschrieben, um endlich reinen Tisch zu machen. Damit sie weiß, dass es nicht ihre Schuld ist, wie alles gekommen ist, sondern meine. Seit dem Tag, an dem ich dich verlassen habe, konnte ich keinen Menschen mehr lieben.«
62
Offiziell ist heute sein letzter Arbeitstag, aber es ist klar, dass er nicht mehr kommen wird. Seine Abwesenheit fällt sowieso nur ihm selbst auf. Für alle anderen ist es nur ein Tag wie jeder andere.
Die Sortiermaschine rattert und verteilt die Umschläge mit maschinengewehrhafter Präzision. Selbst wenn Albert an diesem Morgen dagewesen wäre, hätte er Carols Brief nicht durch die Maschine sausen sehen; zwar trägt der Umschlag ihre Handschrift, aber diesmal prangt kein Smiley darauf, sondern Sophies Name und Adresse.
Sekundenschnell ist der Brief einsortiert und vor der Verbannung ins staubige Kabuff bewahrt.
Was die Maschine betrifft, hatte Albert immer schon recht. Sie ist die Hüterin von Geheimnissen.
63
Kein Gepäck. Das ist nicht nur ihrer Situation angemessen, sondern wesentlich. Wozu auf und davon gehen, wenn man sein altes Leben in einem Koffer mitschleppt? Also begnügt Carol sich mit einer kleinen Tasche, gerade genug für die ersten paar Tage, bis sie sich darüber klargeworden ist, wie es mit ihr weitergehen soll.
Natürlich kann sie so auch leichter unbemerkt aus dem Haus schlüpfen, obwohl sie sich bis zur letzten Minute einbildet, sie werde es Bob noch sagen. Ruhig und besonnen wird sie ihm erklären, warum sie diese Ehe beenden muss, um anschließend mit gutem Gewissen zum Flughafen zu fahren, in dem Wissen, das Richtige getan zu haben.
Langsam macht sie sich eine Tasse Kaffee. Es ist das letzte Mal, dass sie diesen Wasserkessel, diesen Löffel, diese Küche benutzt. Jeder Augenblick ist mit Bedeutung aufgeladen, die einfachsten Tätigkeiten bekommen durch die verrinnenden Sekunden neues Gewicht. Noch zehn Minuten länger unter diesem Druck, und die ganze Welt kracht über ihr zusammen.
Bob sitzt wie üblich am Esstisch, vertieft in seine Gegenwelt. Carol wundert sich selbst, mit wie viel Zärtlichkeit sie ihn betrachtet. Optisch, mental und emotional war der Mann ihr ganzes Eheleben lang eine einzige Enttäuschung, und doch möchte sie ihn jetzt am liebsten nur beschützen, ihn warm und sicher in Watte packen, damit er für den Rest seiner Tage in Frieden leben kann.
Sie setzt sich ihm gegenüber; der Tisch ist übersät mit leeren Coladosen und trockenen Brotrinden – ein Vorgeschmack davon, wie sein Leben bald aussehen
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