Unbekannt verzogen: Roman
1
Carol hätte gerne eine Krankheit. Keine tödliche und auch keine, die sie lähmt oder zum Krüppel macht. Es geht ihr nicht um einen Behindertenparkplatz, auch wenn die Vorteile natürlich auf der Hand liegen.
»Stimmt, ich habe nicht viel aus meinem Leben gemacht«, möchte sie sagen können, »aber das ist nur wegen meiner … Lepra.«
Die Leute würden verständnisvoll mit dem Kopf nicken, während sie langsam zurückweichen, und womöglich könnte sie sich sogar selbst morgens um einiges lieber im Spiegel ansehen: eine Frau in den besten Jahren, die im Leben nicht viel auf die Beine gestellt hat, weil sie voll und ganz damit ausgelastet ist, sich tote Haut abzuzupfen und nach ihren abgefallenen Körperteilen zu suchen.
»Ja«, würde sie sagen, wenn sie mal wieder zu spät ins Büro kommt, »ich bin eine Niete, ich weiß. Aber ich habe ein paar von meinen Fingern wiedergefunden. Das ist doch auch schon mal was.«
Aber sie hat keine Krankheit, keine Ausrede, hinter der sie sich verstecken kann. Dass sie mit einem ausgewiesenen Schwachkopf verheiratet ist, zählt nicht als Behinderung. Und ihre Tochter – tja, was kann sie dazu schon sagen? Vor der Geburt hat sie monatelang sämtliche Bücher über Kindererziehung gelesen, die sie auftreiben konnte. Im Nachhinein betrachtet, hätte sie sich besser mit der Kunst des Krieges von Sun Tsu beschäftigen sollen oder vielleicht mit einer Feldstudie über tollwütige Menschenaffen.
So hat sie sich das Muttersein wirklich nicht vorgestellt. Die Verwandlung ihres süßen Töchterchens in einen Teenager glich einem Alptraum – wie eine Fahrt mit der Achterbahn, auf der man vor der ersten Abfahrt feststellt, dass der Sicherheitsbügel defekt ist.
Mittlerweile ist Sophie siebzehn, die Welt gehört ihr. Und Carol sitzt im Bus und fährt im strömenden Regen nach Hause, starrt auf die nasse Scheibe, hinter der nur eine diffuse Stadtlandschaft zu erkennen ist – die Ahnung eines Straßenschildes, ein Teil einer Ladenfassade –, so bruchstückhaft und unscharf wie ihr Leben: Sie weiß nie, wo sie gerade steht. Und zwanzig Ehejahre münden in drei Worte:
»Ich verlasse dich.«
Carol lässt sich den Satz einen Augenblick auf der Zunge zergehen. Ein Jammer eigentlich, dass sie ihn nur ein einziges Mal wird sagen können. So viel aufgestauten Frust in drei kleine Wörter zu pressen hat ihnen eine neue, beinahe schon atomare Kraft verliehen, als könnten sie, einmal ausgesprochen, ganz London in Schutt und Asche legen.
Sie wird es ihrem Mann heute beim Abendessen sagen, auch wenn sie noch nicht genau weiß, wie sie das Thema anschneiden soll. Und dazu wird sie ihm einen etwas ausgefalleneren Nachtisch als sonst servieren (zufälligerweise ihr Lieblingsdessert). Er soll es ruhig als tröstliche Geste auffassen. Dass es in Wahrheit ein Siegesmahl ist, braucht sie ihn ja nicht merken zu lassen.
2
Es ist schon erstaunlich, wie viel zwölf, dreizehn Meilen ausmachen können. Man denke nur an einen Halbmarathon, bei dem die Läufer mit rosigen Wangen und strahlendem Lächeln ins Ziel kommen. Für London gilt das Gegenteil. Auf den zwölf Meilen zwischen Westminster und Croydon verkommt es von einer Stadt der Parks und Paläste zur eintönigen Schlafstadt, zur grauen Betonwüste. Dass London in Croydon endet, wäre bloß die halbe Wahrheit; hoffnungslos und abgekämpft schleppt es sich bis nach Croydon und verreckt.
Natürlich gibt das niemand gern zu in Carols Nachbarschaft, wo sich die abgearbeiteten Leute noch immer an den Traum vom gehobenen Mittelstand klammern, samt Autowachsen am Samstag und Duftkerzen und Porzellanfiguren auf der Fensterbank.
Während Carol von der Bushaltestelle nach Hause geht, versucht sie, sich nicht weiter über die Gewohnheiten ihrer Nachbarn aufzuregen oder darüber, dass die ganze Siedlung ein Labyrinth aus Sackgassen ist – eher eine kommunale Petrischale als ein Ort, an dem es sich zu leben lohnt. Heute Abend wird sie alle Brücken hinter sich abbrechen. Nicht mehr lange, und sie ist frei.
»Carol!« Mit klirrenden Armreifen behängt, kommt Mandy Horton aus dem Haus gelaufen. »Bob und Tony sind im Pub, Darts spielen. Wir sollen nachkommen.«
»Wie bitte?«
»Bob und Tony …«
»Schon klar, aber Bob hat kein Wort davon gesagt, dass er heute Abend in den Pub will.«
»Na und?«, schnaubt Mandy.
Wie dieses Geschnaube sich wohl anhören würde, wenn Carol ihren Kopf unter Wasser drückte, vielleicht sogar so lange, bis ihr Körper
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