Uncharted - Das vierte Labyrinth
Züge sorgte dafür, dass man das Gefühl hatte, die Welt selbst würde sich jeden Moment in ihre Bestandteile auflösen. Der Lärm erinnerte Drake daran, wie er als Kind die Sekunden in den Pausen zwischen Blitz und Donner gezählt hatte, um herauszufinden, wie nah das Unwetter bereits war.
Am Bahnsteig wartete kein Zug auf sie. Drake hatte damit gerechnet, dass sie zu einer Reise aufbrechen würden. Doch wenn dem so war, würde sie offenbar nicht per Zug erfolgen. Die Gleise waren leer, und abgesehen davon wirkte auch der Bahnsteig verwaist – wenn man von der gelben Absperrung eines Polizei-Flatterbands absah, das dazu verwendet worden war, das Ende des Bahnsteigs abzuriegeln. Drake sparte sich die Frage, was das zu bedeuten hatte. Er hatte begriffen, wohin sie gerade unterwegs waren.
Zwei Bahnsteige weiter stand ein Zug mit laufendem Motor, der sich kurz vor der Abfahrt befand. Ein paar Nachzügler eilten auf seine Waggontüren zu, und ein Schaffner winkte sie eilig an Bord. Er warf Drake und Sully einen flüchtigen Blick zu.
Vor Jahren hätte sich der Schaffner um seinen eigenen Kram gekümmert. New York war einmal die Art von Stadt gewesen, wo sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten geschert hatte. Doch der 11. September hatte alles geändert.
Sully wusste das ebenfalls, weil er an dem Absperrband stehen blieb und keinerlei Anstalten machte, darunter hindurchzugehen. Sie machten sich schon dadurch verdächtig genug, dass sie sich ohne ersichtlichen Grund hier unten aufhielten.
Drake nahm an, dass der Schaffner vielleicht glaubte, sie seien Detectives in Zivil, doch dann wurde ihm klar, dass sie dafür vermutlich nicht gut genug gekleidet waren. Und hätte der Mann einen Blick auf das Guayabera-Hemd unter Sullys Bomberjacke erhascht, hätte er sofort gewusst, dass sie keine Cops waren. Kaum ein Polizist leistete sich solche Marotten.
Sully holte eine Zigarre aus seiner Jackentasche hervor. Obwohl er sich nicht sonderlich um Vorschriften scherte, steckte er sie sich nicht an, sondern klemmte sie sich lediglich zwischen die Zähne und rollte sie eine Minute lang nachdenklich herum. Bis dahin hatte Drake nicht gewusst, dass sein Freund zu Grübeleien neigte.
„Du fängst an, mir ein bisschen Angst einzujagen, Sully. Wie wär’s, wenn du mir endlich sagen würdest, wer hier gestorben ist?“
Sully starrte noch einen Moment länger auf eine Stelle hinter der Polizei-Absperrung, dann nahm er die Zigarre aus dem Mund und wandte sich Drake zu.
„Dieser Bahnsteig ist seit gestern Abend gesperrt. Der Zug kam aus Connecticut – jede Menge Zwischenstopps auf dem Weg hierher – , und als er wieder abfuhr, stand eine alte Reisetruhe auf dem Bahnsteig. Die meisten Leute reisten weiter, verließen die Stadt, aber es kamen auch welche an. Einer der Schaffner erinnerte sich an die Truhe und daran, dass zwei Männer in ihrer Nähe gesessen hatten. Er nahm an, das Ding gehöre ihnen, sah sie sich allerdings nicht allzu gründlich an. Dunkle Mäntel – das ist alles, woran er sich erinnern kann.“
Sully schüttelte frustriert den Kopf und kniff die Augen zusammen. „Denk mal darüber nach, Nate. In dieser Truhe hätte alles Mögliche sein können. Das ganze Ding hätte voller Semtex oder so was sein können. Kannst du dir vorstellen, was eine derartige Menge Sprengstoff, die unter der Stadt explodiert, anrichten würde? Wir sind so besessen von Flugzeugen, aber niemand achtet auf … “
Er brach ab und nahm tiefen einen Atemzug. Sully wirkte eher wütend als bekümmert, doch Drake kannte ihn gut genug, um zu sehen, dass beides der Fall war.
„Dann war diese Truhe also nicht voller Sprengstoff?“, mutmaßte Drake.
Sully warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Du greifst mir vor. Aber nein, es war kein Sprengstoff drin. Allerdings haben die Leute reagiert, als wäre dem doch so. Hunderten von Zügen wurde die Einfahrt verweigert, Tausende Menschen wurden evakuiert. Die Transportbehörde hat Anti-Terror-Einheiten gerufen, und das NYPD hat ein Bombenentschärfungskommando hier runtergeschickt. Die Sprengstoff-Spürhunde haben nichts gewittert, aber sie haben die Truhe trotzdem so behandelt, als könne sie jeden Moment explodieren. Einer der Hundeführer, der auch schon Vierbeiner darauf trainiert hat, nach Toten zu schnüffeln, und deshalb den Geruch ziemlich gut kennt, war wohl der Ansicht, dass in der Truhe eine Leiche sei. Wie sich herausstellte, hatte er recht.“
Drake legte ihm eine Hand auf die
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