Und dennoch ist es Liebe
P ROLOG
P AIGE
Nicholas will mich nicht in mein Haus lassen, aber ich kann meine Familie aus der Ferne beobachten, da ich im Garten campiere. So weiß ich ganz genau, wann Nicholas Max ins Kinderzimmer bringt, um ihm die Windel zu wechseln. Das Licht geht an – es kommt von einer kleinen Dinosaurierlampe, deren Schirm mit Dinosaurierknochen bedruckt ist –, und ich sehe die Silhouette der Hände meines Mannes, wie sie die Pampers ausziehen.
Als ich vor drei Monaten wegging, hätte ich noch an den Fingern einer Hand abzählen können, wie oft Nicholas die Windeln gewechselt hatte. Aber was hatte ich auch erwartet? Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr, und Nicholas war schon immer ein Meister der Notfallbewältigung gewesen.
Max plappert vor sich hin. Es sind sinnlose Silben, die sich aneinanderreihen wie Perlen an einer Kette. Neugierig stehe ich auf und klettere an den niedrigen Ästen der Eiche hinauf, die dem Haus am nächsten steht. Mit ein klein wenig Mühe kann ich mich so weit hinaufziehen, dass mein Kinn auf einer Höhe mit dem Kinderzimmerfenster ist. Ich halte mich schon so lange im Dunkeln auf, dass ich blinzeln muss, als das gelbe Licht des Raumes über mich hinwegfließt.
Nicholas zieht gerade den Reißverschluss von Max’ Schlafsack zu. Als er sich herunterbeugt, greift Max nach Nicholas’ Krawatte und steckt sie sich in den Mund. Als er sie ihm wieder abnimmt, sieht er mich am Fenster. Er nimmt das Baby und dreht Max’ Gesicht absichtlich von mir weg. Dann geht er zum Fenster, dem einzigen, das nahe genug ist, um hineinzusehen, und starrt mich an. Nicholas lächelt nicht und sagt kein Wort. Schließlich zieht er die Vorhänge zu, sodass ich nur noch die Umrisse der Ballons, der Ponys und der Tuba spielenden Elefanten sehen kann – all die lächelnden Bilder, die ich gemalt und zu denen ich gebetet habe, als ich schwanger war, in der Hoffnung, die Märchen würden mir die Angst nehmen und meinem Sohn eine glückliche Kindheit garantieren.
*
In dieser Nacht, in der der Mond so weiß und schwer ist, dass ich nicht schlafen kann, ohne Angst zu haben, zerquetscht zu werden, erinnere ich mich an den Traum, der mich zu meiner vermissten Mutter geführt hat. Natürlich weiß ich jetzt, dass es kein Traum war, sondern die Wahrheit. Es war eine Erinnerung, die zurückkam, kurz nachdem Max geboren wurde – in der ersten Nacht nach der Entbindung und dann in der Woche, als wir ihn nach Hause gebracht haben –, manchmal mehrmals in der Nacht. Häufig habe ich mir diese Erinnerung auch dann wieder vor Augen geführt, wenn Max aufwachte und gefüttert oder gewickelt werden wollte. Und es ist mir unangenehm, zugeben zu müssen, dass ich die Verbindung viele Wochen lang nicht erkannt habe.
In der Küche meiner Mutter waren Wasserflecken an der Decke, sie waren blass und rosa, und ihre Form erinnerte an Pferde. Da , sagte meine Mutter immer und deutete nach oben, während ich auf ihrem Schoß saß, kannst du die Nüstern sehen? Den geflochtenen Schweif? Jeden Tag beschäftigten wir uns mit unseren Pferden. Vor dem Frühstück saß ich auf der Arbeitsplatte, während meine Mutter die Spülmaschine ausräumte, dann stellte ich mir vor, dass das Geräusch von Porzellan auf Porzellan magische Hufschläge wären. Nach dem Abendessen, wenn wir im Dunkeln saßen und dem Rumpeln der Wäsche in der Waschmaschine oder im Trockner lauschten, küsste meine Mutter mich auf den Kopf und flüsterte mir die Namen der Orte zu, an die uns die Pferde bringen würden: Telluride, Scarborough, Jasper. Mein Vater, der Erfinder war und sich mit Programmierarbeiten etwas dazuverdiente, kam immer spät nach Hause und fand uns dann schlafend vor, einfach so, in der Küche meiner Mutter. Ich habe ihn immer wieder gebeten, auch nach oben zu schauen, doch er konnte die Pferde nicht sehen.
Als ich das meiner Mutter erzählte, sagte sie, dann müssten wir ihm eben helfen. Eines Tages hob sie mich auf die Schultern, während sie auf einem kleinen Hocker balancierte. Sie gab mir einen schwarzen Textmarker, der stark nach Alkohol roch, und sagte, ich solle damit die Umrisse von dem zeichnen, was ich sehe. Dann malte ich die Pferde mit der farbigen Kreide aus meinem Wal-Mart-Set aus – eins braun mit weißem Stirnfleck, einen erdbeerfarbenen Rotschimmel und zwei leuchtend orange gefleckte Appaloosas. Meine Mutter fügte die muskulösen Vorderbeine hinzu und die wehenden Mähnen. Dann zog sie den Tisch mit dem Hackbrett in die Mitte der Küche
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