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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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    Der Morgen war ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewußtseins, aber sie hatte noch nie einen Fisch mit einem Kescher gefangen, ebensowenig wie mit der Angel, so daß sie nicht recht sagen konnte, ob oder wie oder warum. Der Morgen war ein Fisch im Kescher. Das sagte sie wieder und wieder vor sich hin, machte einen Singsang daraus – ein Mantra –, während sie Quecken mit der Guillotine ihrer Hacke köpfte, die schlitzäugigen Ziegen melkte und dann gemeinsam mit sechzig ekstatischen Gleichgesinnten schlürfend und kauend vor dem saß, was irgend jemand sich unter Haferbrei vorstellte.
    Draußen brannte die Sonne Kaliforniens ein Statement in den Staub und zeigte den Nebengebäuden und den Bäumen zehn oder halb elf an. Ringsum erklangen Stimmen, lautes Lachen, vormittägliches Scherzen und Sticheln, sie selbst aber genoß das Schweben und ließ nur ihr Ein-Millionen-Kilowatt-Lächeln aufstrahlen, nahm den Keramiknapf mit den Nüssen und Körnern und Rosinen in Ziegenmilch und einem klebrigen Haferflockenklecks darin und wanderte zur Tür hinaus auf den Hof, um sich auf einem Baumstumpf niederzulassen und zu spüren, wie der heiße Staub des Tages zwischen ihre nackten Zehen kroch. Essen war kein privater Akt – auf Drop City war überhaupt nichts privat –, aber dafür gab es hier auch keine Aufseher im Schlafsaal, keine Animateure, weder Eltern noch Chefs, und sie hatte endlich das Gefühl, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Nämlich locker abzuhängen. Denn darum ging’s ja wohl bei allem, oder? Sich die kalifornische Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, ohne Spielchen, ohne die Plastikgesellschaft – nichts als Freiheit und verwandte Seelen, lauter Brüder und Schwestern.
    Star – Paulette Regina Starr, die ihren Namen und ihr Wesen auf vier Buchstaben reduziert hatte – war inzwischen schätzungsweise drei Wochen auf Drop City. Schätzungsweise . In Wirklichkeit hätte sie nicht sagen können, wie lange sie nun schon auf einer bestimmten Matratze in einem bestimmten Zimmer zwischen einem Haufen unbestimmter Leute pennte, und das war ihr auch nicht wichtig. Sie zählte keine Tage, Wochen und Monate – nicht mal die Jahre. Und Äonen auch nicht. Urknall. Wer hat das Universum erschaffen? Gott hat es erschaffen. Der Morgen ist ein Fisch im Kescher . War es nicht ein Dienstag gewesen, als sie eingetrudelt waren? Am Dienstag war abends immer eine Session, und heute ... Heute war Freitag. Das sagte ihr schon der Trubel rund um die Kochtöpfe in der Küche – die Wochenendhippies rollten an, samt den Gaffern und den Spannern –, aber was die Zeit anging, so hatte sie damit wenig Probleme, wie ja wohl aller Welt klargeworden sein dürfte, als sie in Taos ihre Tissot mit dem Goldarmband abgestreift und einem Indianerkind geschenkt hatte – ohne daß der Junge sie angeglotzt oder gar angebettelt hätte, er stand einfach so an der Bushaltestelle, an der Hand seiner Mutter. »Hier«, hatte sie gesagt und sich das Ding vom Handgelenk gezogen, »willst du die haben?« Sie war noch nie an der Westküste gewesen, hatte so etwas wie ihn noch nie gesehen, aber da war er, die schwarzen Haare hingen ihm über die schwarzen Augen, ein tief in sich gekehrtes Indianerkind, und sie mußte ihm einfach irgendwas geben. In den Hügeln tummelten sich die Kakteen. Die Abgase des Busses stiegen ihr in die Nase, und ihre Augen tränten.
    In den Westen war sie mit einem Typ von zu Hause gekommen, Ronnie Sommers, der sich Pan nannte, und sie hatten unterwegs etliche Abenteuer erlebt, Star und Pan – ein bißchen wie die Entdecker Lewis und Clark, nur greller in der Optik. Ronnie nahm an Trampern alles mit, was lange Haare hatte, und das machte sich immer sagenhaft gut, denn es eröffnete ihnen eine riesige Welt von Schlafgelegenheiten mit Essen und Drogen gratis. Einmal pennten sie in Arizona eine Nacht in einem Tipi, bei einem Typ, der ganz braungebrannt und mager war und sich das Haar mit einem Stirnband aus Schlangenhaut zurückgebunden hatte. Sie kochten braunen Reis mit Blumenkohl am Lagerfeuer und warfen Peyote-Buttons ein, die er in den grellweißen Hügeln selbst gesammelt hatte. »Jäger und Sammler«, wiederholte er ständig, »genau das sind wir«, und jedesmal, wenn er es sagte, prusteten sie los, und dann baute Ronnie einen Joint, und sie fühlte sich so großartig, daß sie es gleich mit beiden machte.
    Sie sang immer noch vor sich hin, die Blätter an den Bäumen brutzelten

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