Und dennoch ist es Liebe
ich und trat näher, um seinen Teller abzuräumen. Ich beugte mich vor, hielt noch immer die Speisekarte mit seinem Bild in der Hand, da packte er mein Handgelenk.
»Das bin ja ich«, sagte er überrascht. »Hey, lass mich mal sehen.«
Ich versuchte, mich loszureißen. Mir war egal, ob er meine Zeichnung sah oder nicht, aber das Gefühl seiner Hand auf meinem Handgelenk lähmte mich. Ich spürte den Puls in seinem Daumen und die Rillen auf seinen Fingerkuppen.
Aufgrund der Art, wie er mich berührte, wusste ich, dass er in dem, was ich gezeichnet hatte, etwas erkannte. Ich schaute auf das Papier und war selber überrascht, was ich zu Papier gebracht hatte. In eine Ecke des Bildes hatte ich Könige aus verschiedenen Jahrhunderten mit goldenen Kronen und endlos langen Hermelinmänteln gezeichnet, und in der anderen Ecke war ein knorriger, blühender Baum zu sehen. Ganz oben saß ein dürrer Junge im Geäst und hielt die Sonne in der Hand.
»Du bist gut«, sagte Nicholas und deutete mit einem Nicken auf den Platz ihm gegenüber. »Wenn doch niemand mehr da ist, um den du dich kümmern musst«, sagte er, »warum setzt du dich dann nicht zu mir?«
Ich fand heraus, dass er im dritten Semester Medizin studierte, dass er der Klassenbeste war und dass er gerade von einer Praktikumsschicht kam. Er wollte Herzchirurg werden, und er schlief nachts nur vier Stunden. Den Rest der Zeit verbrachte er entweder im Krankenhaus oder mit Lernen. Er schätzte mich auf fünfzehn und keinen Tag älter.
Ich sagte ihm die Wahrheit. Ich erzählte ihm, dass ich aus Chicago stamme, dass ich auf eine Konfessionsschule gegangen sei und dass ich längst auf der Rhode Island School of Design wäre, wenn ich nicht von zu Hause weggelaufen wäre. Mehr sagte ich jedoch nicht, und Nicholas setzte mich auch nicht unter Druck. Dann erzählte ich ihm von den Nächten, die ich in der U-Bahn-Station verbracht hatte, und wie ich morgens immer vom Lärm der ersten Bahn geweckt worden war. Ich könne vier Tassen samt Untertellern auf dem Arm balancieren, sagte ich zu ihm, und Ich liebe dich in zehn Sprachen sagen. Mimi notenka kudenko , sagte ich auf Swahili, um das zu beweisen. Und ich erzählte ihm, dass ich meine Mutter nicht wirklich kennen würde. Das war etwas, was ich bisher noch nicht einmal meinen engsten Freunden gegenüber zugegeben hatte. Aber ich erzählte ihm nichts von meiner Abtreibung.
Es war schon weit nach ein Uhr nachts, als Nicholas sich schließlich zum Gehen erhob. Er nahm das Porträt, das ich von ihm gezeichnet hatte, und warf es auf den Tresen. »Werdet ihr das auch aufhängen?«, fragte er und deutete zu den anderen Bildern hinauf.
»Wenn Sie wollen«, antwortete ich.
»Du«, sagte er. »Du reicht.«
Ich holte meinen schwarzen Filzstift heraus und schaute mir das Bild an. Kurz dachte ich: Das ist, worauf du gewartet hast. »Nicholas«, sagte ich leise und schrieb seinen Namen oben auf das Blatt.
»Nicholas«, wiederholte er und lachte. Er legte mir den Arm um die Schulter, und so standen wir kurz da, Seite an Seite. Dann trat er einen Schritt zurück, streichelte mich weiter am Hals. »Hast du gewusst«, fragte er und drückte mit seinem Daumen auf meine Haut, »dass man bewusstlos wird, wenn jemand hart genug auf diese Stelle drückt?« Und dann beugte er sich vor und berührte die Stelle so leicht mit seinen Lippen, dass ich schon beim puren Gedanken daran hätte ohnmächtig werden können. Als ich bemerkte, dass er sich bewegte, war er schon zur Tür hinaus. Lange stand ich einfach nur da, taumelte und fragte mich, wie ich hatte zulassen können, dass so etwas wieder geschah.
K APITEL 2
N ICHOLAS
Nicholas Prescott war als Wunder geboren worden. Zehn Jahre lang hatten seine Eltern vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen, als sie endlich mit einem Sohn beschenkt wurden. Seine Eltern waren natürlich ein wenig älter als die der meisten anderen Jungs, mit denen Nicholas auf die Schule ging, doch er bemerkte es noch nicht einmal. Als wollten sie einen Ausgleich schaffen für all die anderen Kinder, die sie nie gehabt hatten, verwöhnten die Prescotts Nicholas, wo immer es ging, und ließen ihm jede Laune durchgehen. Nach einer Weile musste er seine Wünsche nicht einmal mehr aussprechen. Seine Eltern begannen zu erraten, was ein Junge von sechs, zwölf oder zwanzig Jahren sich wünschte, und er erhielt alles. So wuchs er mit Saisonkarten für die Celtics und einem schokoladenbraunen Vollblut mit Namen Scour auf, und
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