Und dennoch ist es Liebe
willen. Aber sie trug kein Make-up, doch auch so waren ihre Augen groß und blau. Er habe einen Schlafzimmerblick – das sagten die Frauen von ihm –, und nun sah er, dass das auch auf diese Kellnerin zutraf.
Nicholas wusste, dass er einen ganzen Berg von Arbeit zu bewältigen hatte. Eigentlich hätte er heute gar nicht ins Mercy gehen wollen, doch er war im Krankenhaus nicht zum Abendessen gekommen, und auf der ganzen Fahrt von Boston zurück hatte er an seine Lieblingspfannkuchen gedacht. Und er hatte auch an die Kellnerin gedacht und an Rosita Gonzalez, und er fragte sich, ob sie wohl wieder gut nach Hause gekommen war. Diesen Monat arbeitete er in der Notaufnahme, und kurz nach vier Uhr hatten die Sanitäter ein Latino-Mädchen hereingebracht: Rosita. Nach einer Fehlgeburt war sie über und über mit Blut bedeckt. Als Nicholas einen Blick in ihre Krankenakte geworfen hatte, war er schockiert gewesen: Rosita Gonzalez war erst dreizehn Jahre alt. Nicholas hatte eine Ausschabung vorgenommen, Rosita anschließend so lange es ging die Hand gehalten und sie immer wieder und wieder murmeln hören: Mi hija, mi hija .
Und dann hatte dieses andere Mädchen, diese Kellnerin, ein Bild von ihm gezeichnet, das einfach nur erstaunlich war. Jeder konnte seine Gesichtszüge kopieren, doch sie hatte etwas anderes getan. Sie hatte seine aristokratische Haltung gezeichnet, die müden Falten um seinen Mund und – am wichtigsten von allem – die Angst, die sich hinter seinen Augen verbarg. Und in der Ecke war da dieses Kind … Nicholas war ein Schauder über den Rücken gelaufen. Immerhin hatte dieses Mädchen unmöglich wissen können, dass Nicholas als Kind gerne auf Bäume geklettert war, um von dort aus die Sonne einzufangen – und er war fest davon überzeugt gewesen, das auch zu können.
Nicholas hatte das Bild angestarrt und erstaunt bemerkt, wie gelassen die Kellnerin sein Kompliment angenommen hatte. Und plötzlich erkannte er, dass dieses Mädchen wahrscheinlich auch ein Porträt von ihm gezeichnet hätte und ihn besser gekannt hätte, als er zuzugeben bereit war, wenn er nicht Nicholas Prescott gewesen wäre, sondern sein Geld als Hilfsarbeiter oder Müllkutscher verdient hätte. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er jemanden kennenlernte, der von dem überrascht war, was er in ihm sah, jemanden, der seinen Ruf nicht kannte, jemanden, der mit einem Lächeln oder einem Dollar oder was auch immer Nicholas gerade entbehren konnte zufrieden war.
Kurz, kaum länger als einen Herzschlag, stellte Nicholas sich vor, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er jemand anderes gewesen wäre. Sein Vater wusste es, doch sie hatten nie darüber geredet, also blieb Nicholas nichts anderes übrig, als zu spekulieren. Was, wenn er tief im Süden großgeworden wäre, an einem Fließband gearbeitet und jeden Abend den Sonnenuntergang über den Bayous von einer knarrenden Veranda aus beobachtet hätte? Ohne eitel sein zu wollen, fragte er sich, wie es wohl wäre, über die Straße zu gehen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hätte alles dafür gegeben – den Treuhänderfonds, die Privilegien und die Verbindungen –, nur um fünf Minuten lang einmal nicht im Scheinwerferlicht zu stehen. Nicht bei seinen Eltern und noch nicht einmal bei Rachel hatte er den Luxus gehabt zu vergessen, wer er war. Wenn er lachte, dann nie zu laut. Wenn er lächelte, berechnete er die Wirkung auf die Umstehenden. Und selbst wenn er sich entspannte, wenn er sich die Schuhe von den Füßen trat und die Beine auf die Couch legte, war er stets zurückhaltend, als müsse er auch noch rechtfertigen, dass er sich ein wenig Freizeit nahm. Er wusste, dass die Menschen stets haben wollten, was sie nicht besaßen, und dennoch hätte er es gerne wenigstens einmal versucht: ein Bootshaus, ein geflickter Sessel und ein Mädchen, das die Welt in den Augen hat, ihm weiße Hemden für fünf Dollar kaufte und ihn nur dafür liebte, was er wirklich war … Mehr wünschte er sich nicht.
Nicholas wusste nicht, was ihn dazu getrieben hatte, die Kellnerin zu küssen, bevor er gegangen war. Er hatte einfach nur den Duft ihres Halses eingeatmet, der noch so sehr an ein Kind erinnerte. Als er Stunden später die Tür zu seinem Zimmer öffnete und Rachel wie eine Mumie in die Bettlaken gewickelt sah, da zog er sich aus und schlang die Arme um sie. Doch als er die Hand um Rachels Brust legte und sah, wie sich ihre Finger um sein Handgelenk schlossen, da
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