Und dennoch ist es Liebe
dachte er noch immer an jenen anderen Kuss, und er fragte sich, warum er die Kellnerin nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.
*
»Hi«, sagte Nicholas. Sie öffnete die Tür zum Mercy und schob einen Stein davor, damit sie nicht wieder ins Schloss fiel. Dann drehte sie das Geschlossen-Schild mit einer natürlichen Eleganz um.
»Du solltest besser nicht reingehen«, sagte sie. »Die Klimaanlage ist kaputt.« Sie nahm ihr Haar von hinten nach vorne und wedelte sich Luft damit zu, als wolle sie ihre Aussage so unterstreichen.
»Ich will auch gar nicht rein«, erwiderte Nicholas. »Ich muss ins Krankenhaus. Aber ich kenne deinen Namen nicht.« Er trat einen Schritt vor. »Ich wollte einfach wissen, wie du heißt.«
»Paige«, antwortete sie leise und rang mit den Händen, als wisse sie nichts damit anzufangen. »Paige O’Toole.«
»Paige«, wiederholte Nicholas. »Gut.« Er lächelte und trat wieder auf die Straße hinaus. Im U-Bahnhof versuchte er, den Globe zu lesen, doch irgendwie verlor er ständig den Faden, denn der Wind im Tunnel sang ihren Namen.
*
Während sie an jenem Abend alles dichtmachte, erzählte Paige ihm von ihrem Namen. Ursprünglich war es die Idee ihres Vaters gewesen. Schließlich war Paige ein guter, irischer Name.
Ihre Mutter hatte sich jedoch strikt dagegen ausgesprochen. Sie glaubte, eine Tochter namens Paige sei durch den Namen verflucht. Schließlich stamme der Name von ›Page‹, und ihre Tochter solle anderen Menschen nicht dienen müssen, niemals. Aber ihr Mann bat sie, noch einmal darüber zu schlafen. Und das tat sie, und sie träumte von dem Namen und dessen anderer Bedeutung. ›Page‹ ist schließlich auch das englische Wort für ›Seite‹. Und das Leben ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ein wunderschönes, unbeschriebenes Blatt, das Paige mit ihrer eigenen Geschichte würde füllen können. Und so wurde sie schließlich doch noch auf diesen Namen getauft.
Dann erzählte Paige Nicholas, dass das Gespräch über die Geschichte ihres Namens eines von insgesamt sieben Gesprächen mit ihrer Mutter war, an die sie sich noch vollständig erinnern konnte. Und ohne darüber nachzudenken, zog Nicholas sie auf seinen Schoß, nahm sie in den Arm und lauschte dem Schlagen ihres Herzens.
Anfang letzten Jahres hatte Nicholas den Entschluss gefasst, sich auf Herzchirurgie zu spezialisieren. Aus dem Beobachtungsraum hoch über dem OP hatte er wie Gott hinabgeschaut und gesehen, wie die Chirurgen einen dicken Muskel aus einer Kühlbox genommen und ihn in den klaffenden Brustkorb des Empfängers eingesetzt hatten. Als das Herz dann zu schlagen begann, Blut und Sauerstoff durch die Adern des Mannes pumpte und ihm so ein zweites Leben verlieh, da hatte Nicholas geweint. Allein das hätte sicherlich schon gereicht, um den Entschluss in ihm reifen zu lassen, Herzchirurg zu werden, doch eine Woche später hatte er den Patienten noch einmal besucht, als es hieß, der Körper habe das fremde Organ angenommen. Er hatte auf der Bettkante gesessen, während Mr. Lomazzi, ein sechzigjähriger Witwer, der nun das Herz eines sechzehnjährigen Mädchens besaß, über Baseball erzählt und Gott gedankt hatte. Bevor Nicholas gegangen war, hatte Mr. Lomazzi sich vorgebeugt und gesagt: »Ich bin nicht mehr derselbe, wissen Sie? Ich denke wie sie. Ich schaue mir Blumen länger an, und ich kenne Gedichte auswendig, die ich nie gelesen habe, und manchmal frage ich mich, ob ich mich wohl je verlieben werde.« Dann hatte er Nicholas’ Hand genommen, und Nicholas war schockiert von der sanften Stärke und dem warmen Fluss des Bluts in den Fingerspitzen. »Ich will mich nicht beschweren«, hatte Mr. Lomazzi gesagt. »Ich weiß nur nicht mehr, wer hier die Kontrolle hat.« Und Nicholas hatte sich murmelnd verabschiedet und noch an Ort und Stelle unumstößlich beschlossen, sich fortan der Herzchirurgie zu widmen. Vielleicht hatte er ja schon immer gewusst, dass die Wahrheit über einen Menschen in seinem Herzen war.
Das wiederum ließ die Frage in ihm aufkeimen, warum er Paige in den Arm genommen und welcher Teil von ihm nun die Kontrolle hatte.
*
An seinem ersten freien Tag im Juli fragte Nicholas Paige, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Dabei redete er sich ein, dass das ja nicht wirklich eine Verabredung sei. Er war ja mehr wie ein großer Bruder, der seiner kleinen Schwester die Stadt zeigte. Schon in der Woche zuvor hatten sie einige Zeit miteinander verbracht. Sie waren zu einem Spiel der Red Sox
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