Und dennoch
ich in München mehrfach ausgebombt worden war, mit den Resten meiner Habe ein kleines Zimmer mit einem Kachelofen bei einer fürsorglichen Schneidermeisterin
bewohnte, die mich rührend mit Brennholz und Kartoffelsuppe versorgte und mir in ihrem Garten ein Gemüsebeet überließ. So hatte ich die Kriegsjahre physisch einigermaßen gut überstanden und sogar die Vorbereitung für mein mündliches Doktorexamen in Tag- und Nachtarbeit geschafft, allerdings mithilfe von kleinen Dosen des Aufputschmittels Pervitin, das von Luftwaffenpiloten zur Leistungs- und Konzentrationssteigerung eingenommen wurde.
Als die Amerikaner im Anmarsch auf Starnberg waren, besser gesagt ihre Panzer heranrollten, wurde vor unserem Haus in der Hanfelder Straße von »werwolfverpflichteten« Männern eine Panzersperre errichtet. (»Reichsführer SS« Heinrich Himmler hatte ab September 1944 sogenannte Werwolf-Kampftruppen aufstellen lassen, deren Aufgabe es war, Sabotageakte zu verüben.) Die bestand in diesem Fall aus einer aufgerissenen Straße und drei mageren Baumstämmen. Wir Anwohner bekamen von einer Werwolf-Führerin die Order, im Waschkessel heißes Wasser bereitzuhalten, um mit Hilfe einer Eimerkette bei der Einfahrt des Feindes, sollte er vor der Sperre stoppen, dieses oben in die Panzer zu schütten. Selbstverständlich dachten wir nicht daran, das zu tun. Auch waren die dünnen Baumstämmchen für die Panzer ohnehin kein Hindernis; es machte einen kleinen Knacks, und schon rollten sie ungestört in das nun mit weißen Betttüchern oder weiß-blau – also bayerisch – geflaggte Starnberg in Richtung Marktplatz. Dort spendierte der Bäcker für Sieger und Besiegte wässriges Eis und Roggenkekse ohne Brotmarken. Finis Germaniae!
Natürlich blieb es nicht bei diesem fast operettenartigen Kriegsende. In Starnberg nicht und auch nicht anderswo: Man beschlagnahmte Häuser, verhängte Sperrstunden, es gab Ausgehverbote. Nazis wurden verhaftet. Natürlich wollte keiner ein Nationalsozialist gewesen sein, und zu Juden hatte man sich immer freundlich verhalten! Die Nazizeit aber wollten – nicht nur die Starnberger – möglichst rasch vergessen. Schon in den nächsten Tagen erlebte ich erste Kostproben dieser Wandlung. Beschwingt
schlenderte ich bei meinem ersten »Freigang« durch die vertrauten Straßen und bedachte alte Bekannte mit einem ungewohnten »Grüß Gott«. Weit und breit waren keine Braunhemden mehr zu sehen. Wo wohl die Wehrwolf-Führerin und ihre Mitstreiter geblieben waren?
Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine kleine Menschenansammlung nicht zu übersehen. Ein Trüppchen ausgemergelter Gestalten in zerschlissener KZ-Kleidung drängte in den Laden und wurde von umstehenden Starnbergern ganz und gar nicht mitleidig begrüßt. »So ein Gesindel hat der Hitler ja wohl zu Recht eingesperrt« war noch der harmloseste Kommentar. Einige amerikanische Soldaten kamen den Ex-KZlern zu Hilfe und versorgten sie mit Candies. Ein paar Einheimische schämten sich für das Verhalten der Bevölkerung, jedoch nur wenige. Ähnliche Szenen gab es auch in anderen Gemeinden rund um den Starnberger See, wo die Güterzüge mit verelendeten Konzentrationslagerhäftlingen aus Dachau stehen geblieben waren. Die Eingepferchten erregten wenig Mitleid, von Unterstützung ganz zu schweigen.
Das Erschrecken hörte damit jedoch keineswegs auf. Als die ersten Berichte über die von den Alliierten befreiten Konzentrationslager bekannt wurden, schienen die Zustände, die dort geherrscht hatten, unfassbar zu sein: die Leichenberge, die Überlebenden, die am Verhungern waren, die Zustände in den Baracken, die Stätten der Qualen und Folter. Eigentlich hätte das allein genügen müssen, um die Bevölkerung ein für alle Mal vom Nationalsozialismus zu heilen. Doch es genügte nicht.
Noch Jahrzehnte später, als Bürger dieser Ortschaften eine Gedenkplakette für die Opfer dieser Barbarei gegen KZ-Häftlinge anbringen wollten, weigerte sich zum Beispiel in Seeshaupt jahrzehntelag eine Mehrheit der Gemeinderäte. Überhaupt: Den anfänglichen Beteuerungen, niemals ein Nazi gewesen zu sein, folgten wenige Beweise der Einsicht und der Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Schon damals empfand ich dies als kein besonders ermutigendes Vorzeichen für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur. Wie würden wir Deutschen
nun damit umgehen, fragte ich mich. Ehrliche Einsicht oder rasches Verdrängen?
Von meinem ersten »Freigang« ist noch der
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