Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
VORWORT
Das Buch der Verschollenen Geschichten, mit dessen Niederschrift 1916/17 begonnen wurde, war das erste wesentliche fantastische Werk J. R. R. Tolkiens. Zum ersten Mal erschienen hier im Rahmen einer Erzählung die Valar, die Kinder Ilúvatars, die Elben und Menschen, die Zwerge und Orks und die Länder ihrer Geschichte: Valinor, jenseits des westlichen Meeres, und Mittelerde, die »Großen Lande«, zwischen dem östlichen und dem westlichen Meer. Etwa siebenundfünfzig Jahre nachdem mein Vater die Arbeit an den Verschollenen Geschichten abgebrochen hatte, wurde Das Silmarillion 1 , eine grundlegende Umgestaltung der frühen Fassung, veröffentlicht; und seitdem sind viele Jahre vergangen. Dieses Vorwort scheint ein geeigneter Ort zu sein, sich zu einigen Aspekten beider Werke zu äußern.
Dem Silmarillion wird gewöhnlich nachgesagt, es sei ein »schwieriges« Buch, das der Erläuterung und der Anleitung bedürfe, die den »Zugang« erschließen. Damit steht es im Gegensatz zum Herrn der Ringe . Im 7. Kapitel seines Buches The Road to Middle-Earth stimmt Professor T. A. Shippey dieser Meinung zu (»Das Silmarillion konnte nie etwas anderessein als eine anstrengende Lektüre«, S. 201) und erläutert seine Auffassung. Einer komplexen Erörterung wird man nicht gerecht, wenn man sie verkürzt wiedergibt, doch Shippey nennt in der Hauptsache zwei Gründe (S. 185): Zum Ersten gibt es im Silmarillion keine »Vermittlung« vergleichbar etwa den Hobbits (so ist Bilbo im Hobbit »das Bindeglied zwischen modernen Zeiten und der archaischen Welt der Zwerge und Drachen«). Mein Vater war sich sehr wohl bewusst, dass das Fehlen der Hobbits als Mangel empfunden werden würde, sollte »Das Silmarillion« veröffentlicht werden – und nicht nur von Lesern, die eine besondere Vorliebe für sie hegten. In einem Brief, 1956 kurz nach der Veröffentlichung des Herrn der Ringe geschrieben, heißt es ( The Letters of J. R. R. Tolkien, Nr. 182): »… Allerdings glaube ich nicht, dass es ebenso zugkräftig wäre wie der H. R. – ohne Hobbits! Voller Mythologie und Elbenkunde, und alles in diesem heigh stile (wie Chaucer sagen würde), der vielen Rezensenten so sehr gegen den Strich geht.«
Im »Silmarillion« ist die Stilebene rein und ungebrochen, und der Leser ist Welten entfernt von derartiger »Vermittlung«, von derart wohlerwogenen Brüchen, wie etwa beim Treffen zwischen König Théoden und Pippin und Merry in den Ruinen Isengarts: »Lebt wohl, meine Hobbits! Mögen wir uns in meinem Hause wiedertreffen! Dort sollt ihr neben mir sitzen und mir alles erzählen, was euer Herz begehrt: Die Taten eurer Vorfahren, soweit ihr sie aufzählen könnt …« Die Hobbits verbeugten sich tief. »Das also ist der König von Rohan!«, sagte Pippin leise. »Ein netter, alter Bursche. Sehr höflich.« ( Die Zwei Türme, S. 186)
Zum Zweiten: »Was Das Silmarillion von den früheren Werken Tolkiens unterscheidet, ist die Missachtung traditioneller Regeln des Romans. Die meisten Romane ( Der Hobbit und Der Herr der Ringe eingeschlossen) stellen eine Figur inden Vordergrund, wie Frodo und Bilbo, und erzählen dann die Geschichte, wie sie dem Helden widerfährt. Natürlich erfindet der Autor die Geschichte und bleibt so allwissend: Er kann erklären und zeigen, was ›wirklich‹ geschieht, und dies der begrenzten Einsicht seiner Figur gegenüberstellen.«
Ferner kommt hier eindeutig das Problem des literarischen »Geschmacks« (oder der literarischen »Gewöhnung«) ins Spiel; und auch das der literarischen »Enttäuschung« – »die (unangebrachte) Enttäuschung derer, die sich einen zweiten Herrn der Ringe wünschten« und auf die sich Professor Shippey bezieht. Diese Enttäuschung hat sogar zu Vorwürfen geführt wie: »Es ist wie das Alte Testament!«; eine schreckliche Schmähung, der man zweifellos nichts entgegenhalten kann (obgleich der, der dies sagte, in seiner Lektüre nicht sehr weit gekommen sein kann, bevor ihn sein eigener Vergleich überwältigte). Natürlich wurde »Das Silmarillion« mit der Absicht geschrieben, Gefühl und Fantasie unmittelbar anzusprechen, ohne dass es dazu einer besonderen Anstrengung des Lesers oder irgendwelcher ungewöhnlicher Fähigkeiten bedürfe; doch es ist in sich geschlossen, und man darf daran zweifeln, ob irgendeine »Annäherung« an das Buch jenen viel helfen kann, die es unzugänglich finden.
Es gibt eine dritte Überlegung (die Professor Shippey freilich nicht im selben Zusammenhang
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