Und dennoch
Besuch bei meinem Doktorvater Heinrich Wieland nachzutragen; eigentlich war es eine Suche. 1927 hatte er den Nobelpreis für Chemie erhalten, später wurde er Direktor des Chemischen Staatsinstituts der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wieland war einer der wenigen widerständigen Professoren, die den sogenannten »Nichtariern« geholfen hatten. Als 1943 Studenten des Widerstandskreises Weiße Rose verhaftet wurden, schützte er mich, bewahrte mich vor Verhören, vielleicht sogar vor Schlimmerem. Als Nobelpreisträger und »kriegswichtiger« Forscher auf dem Gebiet von Giftstoffen und Hormonen galt er als sakrosankt. Zwar wurde ich als »Halbjüdin« von der Universität zwangsexmatrikuliert, Wieland behielt mich aber sozusagen privat als Doktorandin und zahlte mir sogar ein kleines Stipendium, wahrscheinlich aus eigener Tasche. Auf diese Weise überstand ich weitere Nachprüfungen und konnte meine experimentelle Arbeit über Vitamine in Hefemutterlaugen abschließen, die zur Herstellung von Vitaminpräparaten wichtig waren.
Wenn es an jeder deutschen Universität nur eine Handvoll so integrer Wissenschaftler vom Schlage Wielands gegeben hätte, so wären diese vormaligen Elite-Einrichtungen keine so willigen Vollstrecker von Hitlers Wissenschafts- und Hochschulpolitik geworden. Wielands Institut ist immer eine Oase der Anständigkeit geblieben, und ich hatte das große Glück, dort studieren und überleben zu dürfen. Aus Dankbarkeit und Anhänglichkeit hatte ich Starnberg zu meinem Ausweichquartier gemacht, denn dort hatte Wieland sein Sommerhaus.
Nun also stand ich vor seinem Haus in der Schießstättstraße, aus dem Jazzmusik und Gelächter dröhnte. Der Zugang war abgesperrt, und auf meine in holprigem Schulenglisch formulierte Frage, wo denn der Professor sei, deutete ein GI mit dem Daumen die Treppe hinunter: »The old man? Downstairs!« Ja, dort saß der couragierte alte Herr im Kohlenkeller mit seiner Frau und
wartete darauf, von seinen Kindern abgeholt zu werden, da man sein Haus konfisziert hatte. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte begrüßte er mich mit einem sarkastisch-humorigen »Heil Hitler, Fräulein Brücher«. Nach einer Schrecksekunde lachten wir schallend, und ich versuchte den amerikanischen Soldaten radebrechend zu erklären, dass the old man ein weltberühmter Nobelpreisträger sei, ein mutiger Anti-Nazi, der zudem am Grünen Star leide und äußerst gebrechlich sei. Das beeindruckte sie zwar nicht besonders, doch Wieland konnte alsbald zu seinen Kindern ziehen, bis sein Haus wieder freigegeben wurde. Hier hatte es wirklich den Falschen getroffen.
Erste Ernüchterung
Das Kriegsende wurde von den Deutschen höchst unterschiedlich erlebt. Wie jedoch hätte es anders sein können? Wir hatten diesen grausamen Krieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt und der den Tod von Millionen unschuldiger Menschen verschuldet hatte, zu verantworten. Oft hatte ich das Gefühl, dass die meisten Deutschen gar nicht verstehen wollten, warum man sie nun, ohne Ansehen der Person, dafür in die Pflicht und Verantwortung nahm. So beklagten sie ihr persönliches Elend meist lauter als das politische und zerstörerische Unheil, das wir über die Menschen und Völker Europas gebracht hatten. Selten erlebte ich, nun, da wir von der Diktatur und dem Unrechtsstaat befreit waren, eine Bereitschaft, das Geschehen aufzuarbeiten, seine Ursachen zu ergründen und zu bereuen. Stattdessen hörte ich häufiges Zetern und Jammern. Und weil man dies jetzt ungestraft tun durfte, tat man bei jedem Ärgernis im Brustton der Überzeugung kund: »Und das soll Demokratie sein?«
Wir waren in den Anfängen der Nach-Hitler-Zeit mit wenigen Ausnahmen kein schuldbewusstes, reumütiges und um Aufklärung bemühtes Volk, sondern überwiegend mit den eigenen Nachkriegslasten beschäftigt und von persönlichen Beschwernissen
absorbiert. Nein, die meisten waren nicht zu radikaler Umkehr bereit, auch konnten oder wollten sie das Ausmaß der persönlichen und kollektiven Schuld nicht ermessen. Die Deutschen waren zwar durch die Siegermächte von den Exzessen des Nationalsozialismus erlöst, aber ansonsten konnten sie sich weder eine pluralistische Demokratie vorstellen noch eine konsequente Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken und von rassistischer Überheblichkeit.
Als ich fünfundsechzig Jahre später Starnberger Gymnasiasten von den Erfahrungen erzählte, die ich bei Kriegsende in ihrer Stadt gemacht hatte, schauten sie
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