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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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– 1 –
Schatten
    Schatten, der Fledermausjunge, schwebte über die Böschung des Baches, als er hörte, wie der Käfer seine Flügel ausprobierte. Daraufhin holte er kräftiger mit den Schwingen aus und wurde so immer schneller, je näher er dem summenden Geräusch kam. Er selbst war vor dem Nachthimmel kaum zu erkennen, nur die Silberstreifen in seinem dichten schwarzen Fell schimmerten im Mondlicht.
    Der Käfer hatte sich jetzt in die Luft erhoben, seine Flügel und die Deckschalen surrten. Noch immer konnte Schatten ihn nicht mit den Augen erkennen, aber er „sah“ ihn mit den Ohren. Das Insekt wurde von seinem „Klang-Sehen“ erfasst, summte und glühte in seiner Wahrnehmung wie ein Schattenriss auf Quecksilber. Die Luft pfiff in seinen weit ausgestellten Ohren, als er sich auf die Beute hinabstürzte. Er bremste scharf, schaufelte den Käfer mit der Schwanzhaut nach vorn, schleuderte ihn in seinen linken Flügel und von dort geradewegs ins offene Maul. Er drehte nach oben ab, knackte die harte Schale mit den Zähnen, genoss das köstliche Fleisch des Käfers, das ihm in die Kehle spritzte. Er machte ein paar kräftige Kaubewegungen und schluckte ihn ganz hinunter. Vorzüglich! Käfer waren bei weitem die beste Speise im Wald. Auch Mehlwürmer und Zuckmücken waren nicht schlecht. Moskitos schmeckten dagegen wirklich nicht besonders – wie dünne Gaze, manchmal ein wenig stachelig –, aber dafür waren sie auch leichter zu fangen als alles andere. Schon über sechshundert hatte er an diesem Abend gefressen, ungefähr jedenfalls, er hatte zu zählen aufgehört. Sie waren so langsam und unbeholfen, dass man nur das Maul aufsperren und ab und an schlucken musste.
    Er warf ein Netz von Tönen aus, um Insekten zu orten. Eigentlich war er schon fast satt, aber er wusste, er sollte noch mehr essen. Seine Mutter hatte ihm in den vergangenen zehn Nächten immer wieder gesagt, er müsse Fett ansetzen, es werde bald Winter. Schatten zog eine Grimasse, während er einen Mehlwurm von einem Blatt schnappte und hinunterschluckte. Als ob er jemals fett werden könnte! Aber er wusste, dass ihm eine lange Reise in den Süden zu ihrem Überwinterungsplatz Hibernaculum bevorstand, wo die ganze Kolonie die kalte Jahreszeit verbringen würde.
    Überall um ihn herum konnte Schatten in der frischen Herbstnacht andere Silberflügel sehen und hören, die jagend durch den Wald schossen. Genüsslich dehnte er seine Flügel. Wären sie doch nur länger und kräftiger! Für einen Augenblick schloss er die Augen, segelte nur nach dem Gehör, fühlte, wie die Luft das Fell auf Gesicht und Bauch streichelte.
    Plötzlich spitzte er die Ohren. Er hörte das charakteristische Trommeln eines Bärenspinners in vollem Flug. Er stellte den rechten Flügel auf und wendete in Richtung auf die Beute. Wenn er nur einen erwischen könnte – jeder wusste, wie schwer das war –, dann hätte er eine Geschichte, die er bei Sonnenaufgang daheim im Baumhort erzählen könnte, dem Unterschlupf der Kolonie von Jungen und ihren Müttern.
    Da war das Insekt, ruderte mit den zerbrechlichen Flügeln und schaukelte plump hin und her, wirkte eigentlich eher komisch. Schatten hatte den Bärenspinner fast erreicht. Vielleicht würde es ihm dieser nicht so schwer machen. Er warf noch einmal sein Klangnetz über ihn aus und legte die Flügel zum Sturzflug an. Da zerfetzte ein Hagelsturm von Geräuschen sein Echobild, und mit dem inneren Auge sah er auf einmal nicht mehr einen einzigen silbrigen Bärenspinner, sondern gleich ein ganzes Dutzend, und alle flogen in unterschiedliche Richtungen.
    Verwirrt blinzelte er. Die Motte war noch vor ihm, er konnte sie mit den Augen sehen. Irgendwie brachte sie seine Echos mit ihren eigenen durcheinander. Benütze die Augen, sagte er sich, jetzt nur noch die Augen. Er ruderte stärker, kam dem Insekt schnell näher und streckte schon die Krallen aus. Mit geblähten Schwingen bremste er, schaufelte mit dem Schwanz nach vorn, um die Beute zu fangen, als …
    Der Bärenspinner faltete einfach die Flügel zusammen und fiel direkt nach unten aus Schattens Flugbahn heraus.
    Dieser flog zu schnell und konnte nicht anhalten. Sein Schwanz schnellte unter ihm nach vorn durch, und er machte einen Salto. Er suchte wieder Luft in die Flügel zu bekommen, stürzte für einen Sekundenbruchteil, bevor er sich aufrichten konnte. Verwirrt schaute er sich nach dem Bärenspinner um.
    Der schwirrte friedlich über ihm dahin.
    „Oh nein, so

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