und der verschwiegene Verdacht
Frau. Als sie sich umdrehte, fiel das Kerzenlicht auf ihr weißes Haar und die grauen Augen in dem freundlichen, runzligen Gesicht, und als sie lächelte, erinnerte er sich: Großmutters Freundin, eine Frau, für die Crowley seine tiefsten Verbeu-gungen reserviert hatte und in deren Gegenwart sogar Nanny Coles Stimme sanft geworden war.
Wenn sie Geschichten erzählte, drängten sich die Bediensteten um die Tür zum Kinderzimmer, um ihr zuzuhören. Zuerst hatte sie Miss Westwood geheißen, aber dann hatte sie einen anderen Namen bekommen.
»Tante Dimity?« Er wischte sich die Tränen ab und ging den Mittelgang entlang zu ihr.
»Das wird eine ungemütliche Nacht, fürchte ich«, sagte sie, indem sie ihre perlgrauen Handschuhe abstreifte. »Ein richtiger Cornwall-Sturm, der sich da zusammenbraut. Aber hier sitzen wir im Warmen und Trockenen.«
Aus den Tiefen ihrer voluminösen Tasche aus Gobelinstoff, die zu ihren Füßen lag, zog sie ein Tüchlein hervor, sowie ein Fläschchen und eine Mullbinde. »Setz dich, mein Junge«, befahl sie. »Es wird ein bisschen brennen.« Mit geschickten Händen reinigte und verband sie ihm das Knie, das er sich beim Sturz in der Ruine verletzt hatte. Nachdem sie Tuch und Fläschchen wieder in die Tasche gesteckt hatte, lehnte sie sich zurück, faltete die Hände und wartete.
»Warum bist du nicht gekommen?«, fragte er.
»Ich wusste es nicht«, antwortete sie.
Natürlich. Großmutters Beerdigung war eine jämmerliche Angelegenheit gewesen. Vater hatte es sicher nicht bekannt gegeben.
»Es tut mir schrecklich Leid, Grayson«, fügte sie hinzu. »Ich kann mir vorstellen, wie sehr du sie vermisst.«
Grayson rieb sich mit den schmutzigen Fäusten die Augen, dann starrte er auf seine immer noch geballten Hände, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Crowley war als Erster weg gewesen. Dann waren Newland, Bantry und Gash gefolgt. Nanny Cole würde die Nächste sein. Zusammen mit der kleinen Kate würde man sie aus Penford Hall wegschicken, genau wie die restlichen Bediensteten, und er würde sie nie wiedersehen.
Er fing an, Tante Dimity alles zu erzählen, langsam zunächst, dann mit immer größerer Dringlich-keit, und in seiner Stimme schwangen Zorn und Verzweiflung. Es gab sonst niemanden, dem er es hätte erzählen können. Jetzt, wo seine Großmutter tot und das Dorf verwaist war, wo die Hausange-stellten entlassen waren, war der zehnjährige Grayson der einzige Zeuge des Verrats, den sein Vater begangen hatte.
»In Penford Hall ist niemand mehr«, beendete er traurig seine Erzählung. »Und jetzt … jetzt verkauft er alle ihre Sachen.« Er sagte es leise, den Blick zu Boden gerichtet, als ob er dieses Geständnis den Fliesen anvertraute. »Großmutters Schmuck, ihre Bilder … ihre Harfe.«
»Ach Gott.« Tante Dimity seufzte. »Charlottes wunderschöne Harfe …«
»Er hat ihre Laterne verkauft.« Graysons Finger zeigte anklagend auf den Granitsims unter dem Kirchenfenster, wo jetzt die Kerze stand. »Wie können wir denn ohne die Laterne das Fest feiern?«
Er ließ den Kopf hängen, als ob er sich des Vaters schämte, der selbst keine Skrupel kannte.
Mit leicht gerunzelter Stirn fragte Tante Dimity:
»Weißt du ganz bestimmt, dass er das getan hat?«
Der Kopf des Jungen schoss hoch.
»Bist du wirklich ganz sicher, dass die Laterne verkauft wurde?«, fragte Tante Dimity noch einmal. »Ich denke nämlich, dass Charlotte niemals damit einverstanden gewesen wäre, dass sich die Familie von diesem Stück trennt, was meinst du?«
»Wo sollte sie denn sonst sein?«, fragte Grayson ohne Umschweife.
»Ich weiß nicht.« Tante Dimitys Blick wanderte über das Buntglasfenster und die schwach beleuch-teten Wände der Kapelle, dann richtete sie sich auf und sah den kleinen Jungen an. »Aber es ist noch lange hin bis zum Fest, und im Moment müssen wir uns um wichtigere Dinge kümmern. Um dein Gesicht zum Beispiel.« Mit einem leisen missbilligen-den Laut holte sie ein sauberes Tuch aus ihrer Tasche und machte sich daran, die Tränenspuren in Graysons staubigem Gesicht wegzuwischen. »Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich alle diese Ver-
änderungen für dich sein müssen«, sagte sie leise,
»und ich werde dir auch nicht sagen, dass du sie wie ein Mann ertragen musst. Erwachsene Männer vergessen viel zu oft, was für Träume sie einmal hatten, doch manche Träume sind es wert, dass man an ihnen festhält.«
Tante Dimity hob das Kinn des Jungen an und sah ihm ins Gesicht, dann
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