Und Freunde werden wir doch
reingeschlagen. Idiotisch. Komischerweise geht es mir jetzt besser als vorher, eigentlich geht’s mir sogar richtig gut.«
Sandra sieht ihn entgeistert an: »Mensch, Ronni!«
Sie öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, von der teuren Scheibe und von Herrn Rahm, sie überlegt es sich aber anders und fragt statt dessen: »Weiß der Arzt das?«
»Ich habe es ihm gesagt. Was sollte ich sonst tun?«
»Hm, klar.« Sandra versucht zu überspielen, wie betroffen sie ist. Sie kramt in ihrer Plastiktüte herum. »Ich habe dir ein paar Bücher mitgebracht, falls dir langweilig ist.«
»Au ja, prima, was Spannendes?«
»Also...« Sandra zögert. »Es sind Gedichte auf spanisch und auf deutsch, von Pablo Neruda. Wahrscheinlich magst du gar keine Gedichte?« Sie sieht ihn unsicher an. Aber Ronni gewinnt auch Gedichten eine gute Seite ab: »Doch, fein, da braucht man nicht soviel lesen. Ich bin sowieso noch müde und schlafe meistens.« Während er das sagt, sieht er sie so munter an, daß man ihm kaum glauben mag.
Sandra hält diesen Blick nicht aus. Ihre Augen wandern zum Nachtkästchen, zu der kleinen Stoffmaus. »Kommt deine Mutter auch noch?«
»Ja, um vier.«
»Ja, also dann ...« Sandras Augen kehren zu Ronni zurück.
»Was, willst du schon gehen?«
»Hm, ich muß so langsam.«
Sie hat eine Frage auf dem Herzen. Wenn Ronni sie ihr doch bloß abnähme, aber der sieht sie einfach nur an. Schließlich schafft es Sandra doch: »Soll ich wiederkommen?«
»Ja. Ich freu mich riesig, wenn du kommst.« Ronni lacht, seine weißen Zähne leuchten, und Sandra atmet auf. Sie verabschiedet sich auch von den drei Männern und verläßt hastig das Zimmer.
Auf dem Flur rennt sie fast Dr. Melchior um, so ist sie mit sich selbst beschäftigt. Der aber ist erfreut, Sandra zu sehen. Er zieht sie ins Stationszimmer:
»Sandra, es geht ihm schon viel besser!«
»Das habe ich auch gemerkt, aber...«
»Irgendwelche Probleme?«
»Also, die Scheibe, warum hat er das gemacht?«
Der Arzt sieht jetzt nicht mehr ganz so froh drein. Er fährt sich durch das Haar und überrascht Sandra mit einer Bitte: »Du hast sicher gedacht, es sei ein Unfall gewesen. Ich möchte, daß niemand sonst erfährt, wie es wirklich war. Wir müssen hier eine kleine Notlüge gebrauchen.«
»Ja, aber -«
Sandra kommt nicht zu Wort. Dr. Melchior spricht schon weiter. Er möchte Sandra etwas begreiflich machen.
»Wir sind es gewohnt, zwischen Absicht und Mißgeschick zu unterscheiden. Ein Kind, das eine Tasse mit Absicht auf den Boden wirft, bestrafen wir. Ein Kind, das die Tasse aus Versehen hinunterfallen läßt, kann auf Milde hoffen. Hat Ronni mit Absicht gehandelt? Ich kann diese Frage nicht beantworten, es ist mir auch nicht so wichtig. Wichtig ist mir etwas ganz anderes: Wer eine Scheibe zerschlägt, wird wegen Sachbeschädigung bestraft. Wer sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufritzt, wird behandelt, dem wird geholfen. Mit anderen Worten: Aggressionen gegen sich selbst zu richten ist zwar nicht schön, aber auch nicht strafbar, es ist gewissermaßen erlaubt. Aber Aggressionen gegen Dinge zu richten ist böse und muß bestraft werden.
Ich habe im ersten Augenblick gedacht, Ronni hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Aber er hat mir dann gesagt, wie es wirklich war, und ich glaube, daß nichts anderes als wirkliche Verzweiflung hinter diesem plötzlichen Ausbruch steht. In unserem Verständnis von Recht und Unrecht stünde er mit einer selbstzerstörerischen Handlung jetzt viel besser da. Wir hatten hier schon einige Fälle von Selbstmordversuchen, Menschen, die mit ihrer Lebenssituation einfach nicht fertig wurden. Asylanten leben bei uns unter einem enormen Druck. Da ist mir, ehrlich gesagt, eine zerbrochen Scheibe lieber.«
Einerseits ist Sandra erleichtert, daß der Arzt sich so für Ronni einsetzt. Das ist mehr, als man von einem Menschen, der sich pausenlos um Kranke kümmern muß, erwarten kann. Andererseits fühlt sie sich beschämt: Nie hat sie sich - obwohl doch all ihre Gedanken um Ronni kreisten - überlegt, wie er sich fühlt, wie es ihm geht. Eigentlich war nicht Ronni, sondern sie selbst der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gewesen.
Sandra seufzt. Sie spricht es ganz offen aus: »Wenn der Radiohändler erfährt, daß Ronni die Scheibe mit
Absicht eingeschlagen hat, dann zeigt er ihn vielleicht auch noch an.«
»Ja, eben, das müssen wir vermeiden. Wir müssen sehen, daß er den Schaden so schnell wie möglich ersetzt
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