Und Freunde werden wir doch
Meinung am Gesicht abzulesen. Aber Frau Körner bügelt ein weißes Oberhemd ihres Mannes und schweigt. Sie hängt das Hemd auf einen Bügel, knöpft es zu und holt sich ein Handtuch aus dem Wäschekorb.
Zu Sandras großer Überraschung meint sie schließlich: »Schlimm stelle ich mir das vor, in einem fremden Land zu leben. Die Sprache, so vieles ist anders bei uns. Daß die Kinder es da in der Schule nicht leicht haben, kann ich mir denken.«
Sandra überlegt, ob sie es wagen soll, etwas von Asylanten zu sagen. Aber sie möchte nichts wieder kaputtmachen und beißt sich auf die Zunge.
Frau Körner fährt mit dem Bügeleisen über das Handtuch: »Wie ist eigentlich Ronnis Mutter?«
»Sehr herzlich und ganz offen! Also keinerlei Vorbehalte gegenüber Deutschen.«
»Na, wieso denn auch?«
»Ja, wieso denn auch. Aber die kennen sich natürlich nicht gut aus, mit Behörden und so. Und Ronni bekommt wenig Unterstützung in der Schule.«
»Hat der Junge denn Freunde?«
Sandra bemüht sich um eine beiläufige Antwort: »Der macht eher einen zurückgezogenen Eindruck.«
Da fällt Frau Körner etwas ein:
»Übrigens hat Frau Voss angerufen. Sie lädt uns ein zu einem Fest. Es sollen auch einige Südamerikaner dabeisein. Vielleicht kannst du sie mal fragen, ob Ronni mitkommen darf?«
16
Um halb fünf Uhr morgens wird geweckt. Das Programm ist festgefügt und spult sich mit unabänderlicher Regelmäßigkeit ab: Bettenmachen, Waschen, Fieber- und Blutdruckmessen, Frühstück.
Es ist sieben Uhr fünfzehn. Ronni sitzt schon satt im Bett. Heute geht es ihm besser. Er sieht sich um und bemerkt erst jetzt, daß er im Krankenzimmer nicht allein ist. Weitere drei Betten stehen da, eines neben ihm und zwei gegenüber. Drei erwachsene Männer liegen in diesen Betten. Der eine kaut noch an seinem Frühstücksbrötchen herum, die beiden anderen schlafen wieder, jedenfalls haben sie die Augen geschlossen. Waren die drei gestern schon hier? Ronni kann sich nicht erinnern.
Was war gestern überhaupt? Die Eltern und Brüder kamen, trösteten ihn. Ja, sie waren wirklich da, Ratonita, die kleine Maus, ist der Beweis. Ronni riecht an dem abgewetzten Stoff, der einmal mit Plüsch bezogen war. Er mag diese Mischung aus Staub, Saft und Schokolade, so riecht nur Ratonita. Als Ronni klein war, fütterte er sie immer, von allen Lieblingsspeisen bekam Ratonita etwas ab. Und viele heftige Küsse auf das spitze Schnäuzchen bekam sie obendrein.
Ratonita ist fast die einzige greifbare Verbindung zwischen früher und jetzt. Schon in seinem Gitterbett in Valparaíso hat er mit ihr gespielt und sie immer wieder durch das Gitter auf den Boden kullern lassen. Patricio mußte sie jedesmal aufheben und ihm zurückgeben. Ratonita war auch das einzige, was er mitnehmen durfte, als sie nach Deutschland zogen. Sie hat nun auch hier ihren Platz auf dem Kopfkissen. Ronni sieht aus dem Fenster. Die Sonne scheint. Durch das geöffnete Oberlicht strömt weiche laue Luft ins Zimmer. Er atmet sie ein und fühlt sich richtig wohl.
Während er zum erstenmal seit langer Zeit wieder frei atmet, steht Dr. Melchior schwitzend im Stationszimmer und telefoniert. Die große Schaufensterscheibe von »Radio Rahm« ist teuer, sehr teuer. Herr Rahm will das Geld so schnell wie möglich haben, das heißt: lieber heute als morgen. Eine Glasversicherung hat er seinerzeit, als er das Geschäft eröffnete, nicht abgeschlossen. Damals mußte man das nicht tun, und darum hat er den Schaden erst einmal aus eigener Tasche zu bezahlen. Das tut er ungern. Neben dem ganzen Ärger, der Herumtelefoniererei auch noch die Kosten für die teure Scheibe vorstrecken, das ist wirklich zuviel verlangt für einen Geschäftsmann.
Außerdem neigt Herr Rahm zu Wutanfällen. Choleriker ist er eben, ein Mann, der leicht aus der Haut fährt; seine dunkelrote Gesichtsfarbe ist da eine gewisse Warnung.
Gerade ist Herr Rahm wieder dabei, seine Hautfarbe zu ändern. Das kann Dr. Melchior am anderen Ende allerdings nicht sehen. Der Arzt versucht, den Geschäftsmann zu beruhigen, versucht ihm glaubhaft zu machen, daß er das Geld in jedem Fall bekommen wird, doch er solle die Familie bitte erst einmal ein paar Tage lang in Ruhe lassen, die müßten sich jetzt von dem Schreck erholen.
Das sieht Herr Rahm ganz anders. Er brüllt ins Telefon: »Erst mußte ich mindestens sieben Telefonate führen, um überhaupt die richtige Nummer zu bekommen, dann hat man mich hingehalten. Sie seien morgens um halb
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