Und fuehre mich nicht in Versuchung
Tode, es ist ja schon für mich unerträglich.»
In Sachen Theologie war Susanne schon ein bißchen arrogant, sie hatte gleich gemerkt, daß sie das bei einigen älteren Kollegen und der feministisch bewegten Pfarrerin der Christuskirchengemeinde nicht beliebt machte. Ihre bissigen Kommentare über feministisch-theologische Auswüchse («Lila, der letzte Versuch»), politisch-theologische Sentimentalitäten («Ja, damals, als wir im Talar gegen die Startbahn West demonstrierten») oder stromlinienförmige Kirchenreformen («Die glauben einer Unternehmensbera tung mehr als der Bibel») entzückten nicht jeden Gesprächspartner. Sie verblüfften aber auch, weil sich Susanne nicht in den Vordergrund drängte und man ihr diese treffenden Spitzen nicht gleich zutraute. Susanne war eben eine Frau «auf den zweiten Blick». Jetzt hatte diese Frau aber auch auf den dritten Blick keine Idee, wie sie bis zum nächsten Tag zu einer Traueransprache finden konnte, die sie nicht vor Gott und der Welt blamierte.
Susanne wählte die Münsteraner Nummer. Zu ihrer Überraschung erinnerte sich Bernhardt sofort an sie.
Susanne konnte sich eben wirklich nie vorstellen, daß sie anderen auffiel, sie selbst hätte sich immer als unscheinbar eingeordnet, einmal abgesehen von ihren Schuhen. Im Geiste hatte sie sich schon eine Erklärung für Dr. Bernhardt zurechtgelegt: Ich war die, die immer bei Ihnen in der ersten Reihe gesessen hat, mittelbraune Haare, mittelschlank, bestimmt erinnern Sie sich nicht an mich, aber vielleicht an meine Schuhe … Aber diese Erläuterungen waren überflüssig. Urs Bernhardt wußte sofort, wer ihn da anrief. «Frau Hertz, wie schön, von Ihnen zu hören. Wo haben Sie denn die Jahre über gesteckt?» Susanne freute sich über seine sympathische Stimme und über sein Interesse. Sie erinnerte sich auch, daß Urs Bernhardt über ein erstaunliches Gedächtnis verfügte. Ab und an amüsierte er seine Studenten damit, daß er genau sagen konnte, was er an diesem Tag vor zehn Jahren getan und gedacht hatte.
Sein Gehirn erschien ihr wie eine Festplatte mit unendlicher Speicherkapazität. «Wahrscheinlich weiß er noch das Ergebnis meiner Proseminararbeit», dachte Susanne amüsiert und gleichzeitig erschreckt – was für einen Blöd-sinn hatte sie damals geschrieben? Sie jedenfalls erinnerte sich nicht oder hatte diese «Meisterleistung» bereits erfolgreich verdrängt. Aber sie kam gar nicht dazu, in pein-lichen Erinnerungen zu versinken. Urs Bernhardt löcherte sie mit Fragen, und es galt, über die letzten Jahre zu berichten, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Susanne erzählte von ihrer Zeit auf Malta, von der Rückkehr nach Mainz und davon, daß sie zur Zeit Vakanzvertretungen übernehme, bis sie entscheiden konnte, was für sie beruflich anstünde. Urs sprach von seinem Ruf nach Bonn und seinem neuen Buch, das eine Synthese von Musik und Theologie beschreiben sollte. Außerdem komponierte er gerade an einer Oper über E.T.A. Hoffmanns «Das Fräulein von Scuderi» in Zwölftonmusik. Susanne konnte sich den Kompositionsprozeß lebhaft vorstellen. Ein Urs Bernhardt, der in seinem chaotischen Arbeitszimmer aufgeregt hin- und herläuft und zwischenzeitlich seine erstaunlich sauber gezeichneten Noten auf dem Notenpapier notiert.
Er hatte ihr einmal eine kleine Komposition gezeigt. Seine Notenschrift bildete einen krassen Gegensatz zum Zustand seiner Umgebung. Stalagmitenähnlich wuchsen Stapel von Büchern auf dem Boden, der Weg zum Schreibtisch war ein Slalomlauf zwischen diesen Bücherhaufen und CDs, die Urs Bernhardt ständig hörte und sich dabei, passend zur Musik, hüpfend bewegte. «Ich weiß gar nicht, warum das
‹Fräulein von Scuderi› bisher nur von Hindemith vertont wurde, der Stoff drängt sich doch förmlich auf», erzählte Urs begeistert, während sich Susanne fragte, wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung dieses Werk E.T.A. Hoffmanns überhaupt gelesen hatten. Sie schätzte einen Wert von unter einem Prozent.
Im Gegenzug berichtete Susanne von den aufregenden Ereignissen im Zusammenhang mit Steffen Vogel und von den zermürbenden Vorbereitungen der Trauerfeier. «Ich bin irgendwie blockiert, ich habe nur das Gefühl, daß dieser Konfirmationsspruch wichtig für ihn war, er hat sich die Urkunde ja aufbewahrt und sogar in seiner Wohnung aufgehängt: «Führe mich nicht in Versuchung». Ich dachte, Sie könnten mir mit Ihren wunderbaren Gedankenspiralen weiterhelfen, meine
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