Und immer wieder Liebe Roman
sitze, nimmt er rechts von mir Platz. Dann greift er nach der Weinkarte, als wäre es nach so langer Zeit die normalste Sache der Welt.
»Rot oder weiß?«
Und nun? Wie soll ich ihm klarmachen, dass ich nichts mehr trinke?
Mein Exmann hielt das für den Anfang vom Ende unserer Ehe, und Federico war schon ein Weinkenner, als wir noch in Billigpizzerien gingen. Zu einem Glas »vino della casa« hat er nie Nein gesagt. Ich warte, dass etwas passiert, oder vielleicht werde ich auch beeinflusst von der absoluten Natürlichkeit, mit der er sich verhält, seiner selbst vollkommen sicher.
»Ich trinke keinen Wein, lieber ein Bier.«
»Bier ist nicht gerade ideal zum Feiern.«
»Wie findest du mich?«, frage ich und zerkrümle ein Grissino auf der dunkelgelben Tischdecke der Trattoria, in der die Zeit seit dem Abituressen stillgestanden zu haben scheint: dieselben Stühle mit den Sitzflächen aus Strohgeflecht, die Anrichte mit den weißen Tellern und den flaschengrünen Gläsern, die Wände mit den Filmplakaten und den Schwarzweißfotos von Opernsängern,
Theaterschauspielern und anderen Prominenten, die ich nicht kenne.
»Unverändert«, antwortet er, ohne dass seine Stimme einen besonderen Tonfall annimmt.
»Sag das noch mal«, bitte ich, höchst dankbar für diese unwiderstehlich großzügige und taktvolle Geste.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert, Emma. Du bist UN-VER-ÄN-DERT«, wiederholt er, betont die Silben und lächelt mich an – UN-VER-ÄN-DERT auch das, dieses unendlich breite, frauenmordende Grinsen, das mich in der letzten Klasse des Gymnasiums umgehauen hat, als wir Mädchen noch schwarze Kittel tragen mussten, während die Jungs in Schlaghosen und groß karierten Hemden herumliefen. Die Schmach der schwarzen Tauchermontur, die eine explosive Mischung aus karierten Röcken, Miniröcken, Cowboystiefeln und knappen Jäckchen verhüllte, wurde am 17. juli 1970 dem Vergessen anheim gegeben. Bestnoten und freie Bahn für den ersten Urlaub mit Freunden.
Als Federico von einer Privatschule zu uns kam, schlug er wie ein Meteorit in unsere Klasse ein und stellte mein Leben auf den Kopf. Und trieb einen Keil in meine symbiotische Beziehung zu Gabriella, denn sie fand ihn vom ersten Augenblick an abscheulich, arrogant und armselig, Sohn reicher Leute eben. Ein Mensch mit zu vielen Fehlern für ihren Geschmack, den sie ihrer Herkunft aus einer besseren Familie und ihrer spartanischen und immer auch etwas snobistischen Erziehung verdankt.
Nebenprodukt dieser Erziehung ist der harmonische Klang ihres nicht rollenden R, der sie für das Französische prädestiniert. In Wahrheit war sie eifersüchtig. Viele Jahre später hat sie das zugegeben, als wir nämlich bei der Beerdigung unserer Englischlehrerin, die uns als Einzige je verstanden und angespornt hat, die Trauerstimmung durch Spekulationen über das »Wer war wer«
und »Was ist wohl aus dem geworden« vertrieben haben. Gabriella erinnerte sich an ihn, suchte die mit drei Generationen von Schülern vollgestopften Bänke der Chiesa di San Marco nach ihm ab und sagte: »Wer weiß, was aus der Bohnenstange geworden ist.« So pflegte sie ihn zu nennen.
»Nur noch vier Monate.«
Das ist der erste Satz, der mir in den Sinn kommt, nachdem ich Risotto alla milanese und Hackfleischklößchen mit Kartoffelpüree bestellt habe. Ich brauche Zeit. Und Kalorien. Wie eine Pennälerin schlage ich die Augen nieder und spiegle mich im leeren Teller, wo die Grissini bereits eine winzige sandfarbene Düne bilden.
»Vier Monate bis wohin, Emma?«
»Bis zum mittleren Lebensalter.«
»Oh, das habe ich soeben erreicht, und ich versichere dir, dass nichts Schlimmes passiert ist. Nur eine etwas größere Party als sonst.«
»Ich werde keine Party feiern. Geburtstage zu ignorieren, ist der beste Weg, um Depressionen zu vermeiden. Deine Lippen sind schmaler geworden«, murmle ich und gehe näher an sein Gesicht heran. Im selben Moment bereue ich schon, dass ich meine Ungeduld, von mir zu erzählen und vor allem etwas über ihn zu erfahren, mit einem so unpassenden Satz bezwingen wollte. Wenn man sich in meinem Alter mit jemand Neuem trifft, ist man zu einem lästigen Resümee der jeweiligen Fehler, Universitätsbesuche, Arbeitsstellen, Ehefrauen, Ehemänner, Exfreunde und literarischen Vorlieben gezwungen. Nicht zu vergessen die Auflistung der zehn Songs, von denen man sich nie trennen würde. Der Vorteil bei Federico ist, dass wir uns, wenn man von den Narben und Wunden
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