Und immer wieder Liebe Roman
Gepflogenheiten von Achtzehnjährigen vermutete ich damals, dass sich seine Hoffnungen auf etwas Umfassenderes richteten als auf einen Kuss.
Ich öffne die Tür, drehe mich um mich selbst und mache mit
dem einzig greifbaren Relikt meiner Ehe den Glaubwürdigkeitstest: »Na, was sagst du?«
»Danke, Mammina, in der Wanne im Gästebad kann ich mich nicht mal richtig ausstrecken. Wieso bist du eigentlich so nett heute? Und wo willst du hin, dass du dich so aufgebrezelt hast?«
»Ich begebe mich auf die Suche nach dem Mädchen, das ich einmal war«, antworte ich mit dem poetischsten Satz, der mir einfällt, und stelle den CD-Player leiser. Und hoffe insgeheim, dass er nicht weiter fragt. Wir haben ein vertrauensvolles Verhältnis, aber ich bin immerhin seine Mutter und möchte ihm nicht erklären müssen, dass ich mich nicht vor der Erscheinung meiner selbst als Achtzehnjähriger blamieren möchte. Obwohl er mich ermuntert, mir Verehrer zu suchen, hat für Mattia mein Liebesleben seit der Trennung von Michele, seinem Vater und meinem Exmann, ein Ende gefunden.
Die welligen Haare vom Foto sind alle noch da. Die kastanienbraune Flut, die sich damals über seine Schultern ergoss, ist jetzt ein ordentlich gestutzter, taubengrau gesprenkelter Schopf. Seine Hände stecken tief in einem Montgomery mit Hornknöpfen, oben schaut ein Brooks-Brothers-Kragen heraus, unten eine Flanellhose mit Aufschlag, außerdem Churchs aus dunkelbraunem Gamsleder. Hat er das extra gemacht? Es ist eher anzunehmen, dass er seine Uniform nie gewechselt hat. Ich atme tief ein und aus, und dann... los. Mit erhobenem Kopf überquere ich das kurze Stück Straße, das mich von dem Montgomery trennt. Er wird mich erblicken und zweifellos die Farbe meiner Wangen bemerken. Sie glühen, vermutlich sind sie rot und changieren im schlimmsten Fall ins Auberginefarbene. Ich bin nämlich schüchtern, auch wenn diese Charaktereigenschaft nur meinen engsten Freunden bekannt ist. Auf alle anderen wirke ich extrovertiert und
rede unaufhörlich überflüssiges Zeug, auch wenn ich mit den Jahren und der Erfahrung den melodramatischen Einschlag abgelegt und den therapeutischen Nutzen der Ironie schätzen gelernt habe. Wir Kleinen schreiten nicht einher, wir bahnen uns mühsam einen Weg; nur noch wenige Meter trennen mich von ihm, aber es ist, als würde ich mich einem unbekannten Kontinent nähern. Unmöglich kehrtzumachen, das Ganze zu verschieben, und sei es auch nur, um zu entscheiden, wie man jemanden begrüßt, der einem vor einer unglaublichen Anzahl von Jahren das Herz geraubt hat. Einen Kuss könnte er falsch verstehen, als Übermaß an Vertraulichkeit. Ich könnte ihm einfach die Hand schütteln. Freut mich, hallo, ich bin Emma. Im Prinzip ist es ein wenig wie ein erstes Mal. Er wird mich ein bisschen zu förmlich finden, und das wird ihn für den Rest des Abends gehemmt sein lassen. Undenkbar, ihm um den Hals zu fallen. Federico ist über eins achtzig groß, und ich erreiche, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, bestenfalls die Marke von eins fünfundsechzig. Der graumelierte Herr tritt auf mich zu. Die Zeit reicht nicht, um mich an dieses neue Gesicht mit den Spuren von Altem zu gewöhnen, sie reicht nicht, um zu begreifen, mit wem ich es zu tun habe, nur so, aus einem rein anthropologischen Interesse heraus, denn kaum stehe ich vor ihm, drückt Federico mich mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt an sich. Wie kommt es, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin?
»Hallo, Emma.«
»Federico...«
»Sollen wir reingehen?«
Der Atem beruhigt sich, mein Herzmuskel beendet den Galopp, in den er sinnloserweise verfallen war. Ich trete hinter ihm in die Wärme derTrattoria. Sein Duft ist noch derselbe: Eau Sau vage. Offensichtlich ist es immer noch ein Klassiker, wie der meine
– Chamade -, ein Andenken an mein früheres Leben, duty-free. Vielleicht hat er ihn auch absichtlich gewählt.
Ruhig, Emma, Romane haben nichts mit dem wahren Leben zu tun. Und das war, wie der Treue Feind sagen würde, ein Gedanke aus einer Liebesschmonzette.
Federico hat etwas Altmodisches an sich, und seine Größe zwingt ihn zu einer leicht gebeugten Körperhaltung. Fett ist er nicht geworden, und galant war er schon zu Schulzeiten, als die anderen den Rüpel herauskehrten, weil sie nicht wussten, wohin mit sich und ihrem Körper. Er nimmt mir den schwarzen Mantel von den Schultern und gibt ihn der Kellnerin, zieht für mich den Stuhl vor, und als ich bequem
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