Und Jimmy ging zum Regenbogen
Landpfarrer, den es in die Stadt verschlagen hatte, spendete Rat und Trost, immer wieder …
Valerie und Martin Landau standen jetzt im Wohnzimmer. Heinz starrte sie böse an. Die Anges rang ihre abgearbeiteten Hände.
»Daß Sie endlich da sind, gnä’ Frau! Es ist schrecklich, ganz schrecklich, was der Heinzi alles sagt! Ich muß mich so aufregen, ich …«
»Schon gut, Agnes. Hör mal, Heinz, hast du den Verstand verloren? Draußen im Stiegenhaus kann man dich hören!«
»Soll man doch! Soll man doch! Das ist mir scheißegal! Tag, Onkel Martin.«
»Du, wenn du nach allem, was du angestellt hast, jetzt auch noch frech bist, kannst du etwas erleben!« rief Valerie.
»Ja? Was denn? Was denn? Was kann ich denn noch erleben?« schrie Heinz. »Was denn noch?«
»Du sollst nicht so schreien«, sagte Valerie und zwang sich, es ruhig zu sagen. Sie dachte: Mein Gott, der arme Junge, was muß in ihm vorgehen, und sagte: »Jetzt wollen wir in Ruhe über alles reden. Onkel Martin ist eigens mitgekommen, um uns überlegen zu helfen, was wir am besten tun können.«
Heinz schrie in einem Paroxysmus von Wut und Verzweiflung: »Ich bin ein dreckiger Halbjud! Da kann man nichts tun! Da kann man überhaupt nichts tun! Da muß man das Maul halten und kuschen und warten, was die anderen tun! Sie werden schon was tun, die anderen! Mein feiner Vater …«
»Hör sofort damit auf!« rief Martin Landau unglücklich.
»Du hast wohl vergessen, wer an all dem wirklich schuld ist, was passiert ist!« sagte Valerie, nähertretend.
»Einen Dreck habe ich das vergessen!« schrie der Junge außer sich. »Ich denke an nichts anderes! Dein Mann, mein Vater, dieser Scheißjud ist schuld an allem!«
Im nächsten Moment schlug Valerie ihm ins Gesicht, so fest sie konnte. Er taumelte zurück. Rot brannte der Abdruck ihrer Hand auf seiner Wange. Aber er weinte nicht.
Keuchend standen Mutter und Sohn sich gegenüber.
»Herr Jesus im Himmel, was bist du bloß für ein Bub«, klagte die Agnes.
»Wie kann ein Mensch nur so böse sein … so schrecklich böse! Deine arme Mutter … denkst du nicht auch an die? Was die für Kummer und Sorgen hat? Das ist dir gleich!«
Martin Landau, im Hintergrund, begann: »Also wirklich, Heinz, das ging immerhin zu weit! Du wirst dich sofort entschuldigen!«
Es klingelte.
Nun erstarrten sie alle, es war, als hätte man ein laufendes Filmband plötzlich angehalten.
Es klingelte wieder, ungeduldig, mehrmals.
»Ich gehe schon«, sagte Valerie. Die anderen blieben zurück, ohne sich anzusehen, ohne ein Wort zu sprechen. Von draußen klangen undeutlich Valeries Stimme und die eines Mannes herein.
Martin Landau dachte verzweifelt: Polizei. Bonzen. Gestapo. Aus. Alles aus. Und ich hier, mitten drin, mitten drin, o du mein Gott.
Die Wohnungstür fiel zu. Valeries Schritte kamen näher, sie betrat das Zimmer, ein Kuvert in der Hand.
»Expreßbrief«, sagte sie, während sie den Umschlag aufriß und einen Bogen Papier entfaltete. Er trug in der linken oberen Ecke den Namen und die Adresse der Chemie-Staatsschule, weiter unten und rechts das Datum, 21. Oktober 1942, und der Brieftext begann ohne Anrede. Valerie überflog ihn. Sie lehnte sich gegen die Tür.
»Was ist, gnä’ Frau?« rief die Agnes.
»Wer schreibt da?« fragte Martin Landau, leise und unglücklich.
Klanglos las Valerie: »›Ich teile Ihnen mit, daß Ihr Sohn, der jüdische Mischling Ersten Grades, Heinz Steinfeld, wegen schwerer sittlicher Verfehlungen sowie wegen Zersetzung des nationalsozialistischen Gemeinschaftsgeistes durch mich mit sofortiger Wirkung vom Unterricht suspendiert worden ist. Ich habe den Fall bereits zur Kenntnis des Herrn Gauleiters und Reichsstatthalters für Wien gebracht, der die entsprechenden Schritte gegen Ihren Sohn anordnen wird. Professor Doktor Karl Friedjung, Direktor.‹«
Nachdem Valerie das letzte Wort gelesen hatte, war es wieder totenstill im Raum. Niemand regte sich. Niemand sah den andern an. Die Agnes bewegte fast unmerklich die Lippen. Die Agnes betete.
18
Valerie ging, den Brief in der Hand Iangsam durch das Zimmer zu einem Fenster. Sie wandte allen den Rücken, während sie abwesend den Vorhang berührte. Hinter diesem war eine schwarze Papierrolle herabgelassen – die Verdunkelungsvorrichtung, wie an allen Fenstern der Stadt. Verdunkelt wegen feindlicher Flugzeuge war ganz Wien, war ganz Deutschland. Valerie hob die schwarze Papierrolle seitlich etwas an. Im Hof war es so finster, daß
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