Und Jimmy ging zum Regenbogen
sie nicht einmal die nächsten Äste der drei großen, alten Kastanienbäume erblicken konnte. Dennoch starrte sie in diese Finsternis, mindestens eine Minute lang. Hinter ihr blieb es still, absolut still. Tief Atem holte Valerie, bevor sie sich umdrehte und mit fester Stimme sagte: »Nun gut, wenn es also keinen anderen Weg gibt! Du brauchst keine Angst zu haben, Heinz. Gar keine.« Sie mußte schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. »Es wird nichts geschehen, überhaupt nichts.«
»Aber der Friedjung schreibt doch, daß er schon den Schirach verständigt hat!« Jetzt schrie Heinz nicht mehr. Jetzt saß er, klein, angsterfüllt und bleich, auf einer Truhe.
Valerie mußte wieder schlucken, sie mußte es nun dauernd.
»Schirach wird nichts unternehmen. Denn du bist kein Mischling.«
»Was?« flüsterte Heinz. »Was bin ich nicht?«
»Du bist kein jüdischer Mischling Ersten Grades.« Jedes Wort bereitete Valerie Mühe. Sie stemmte die Hände hinter sich auf das Fensterbrett, um Halt zu haben. Nun ist es soweit, daß ich es tun muß, dachte sie. Ja, nun muß ich es tun, und schnell.
»Aber wenn mein Vater doch Jude ist …«
»Der Mann, mit dem ich verheiratet bin, ist Jude«, sagte Valerie Steinfeld langsam, leicht würgend, mit jedem Wort ringend, »aber dieser Mann ist nicht dein Vater.«
»Jesus, Maria und Josef!« rief die Agnes.
Martin Landau ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Sie hat mich überrumpelt, dachte er. Hereingelegt hat sie mich, betrogen! Das also schwebte ihr vor, als sie mich überredete, hierher zu kommen. Ist das eine Niedertracht, nein, ist das eine Gemeinheit!
Landau tat Valerie Unrecht: Sie hatte ihn nicht mit dieser Absicht hergebracht, sie hatte wirklich nur gewünscht, einen Mann zur Seite zu haben, wenn sie mit ihrem Sohn sprach. Der Ausschlag, das zu tun, was sie nie tun wollte, war durch den Brief gekommen, diesen furchtbaren Brief des Direktors Friedjung.
Heinz hatte sich erhoben. Er starrte seine Mutter an. Er stotterte: »Nicht mein Vater … aber wieso … aber was heißt … aber das gibt es doch nicht!«
»Das gibt es«, sagte Valerie, und nun kam ihre Stimme plötzlich ruhig und ohne Mühe über die Lippen, flach jedoch, fremd und kalt, unmenschlich fast, so wie ihr Gesicht plötzlich kalt, fremd und unmenschlich wirkte in seiner Starrheit. »Natürlich gibt es das, Heinz. Ich habe nie darüber gesprochen, weil es alles andere als angenehm für mich ist, darüber zu sprechen … Jetzt muß es sein. Ich habe meinen Mann betrogen.«
»Also immerhin …«, begann Landau erbittert.
»Sei still, Martin, ja?« Valerie sah ihn an. Er schwieg. Die Agnes bekreuzigte sich. »Ich habe mich nie sehr gut mit meinem Mann verstanden. Ich habe ihn schon bald nach der Heirat mit einem andern betrogen. Dieser andere ist dein Vater, Heinz, nicht mein Mann. Und dieser andere ist Arier.« Valeries Worte kamen wie von einer Schallplatte. »Und darum bist du kein Mischling, darum bist auch du Arier, reiner Arier!« Nun mußte Valerie doch tief Luft holen, mühsam ging es, weh tat es in der Brust. »Und das werde ich jetzt öffentlich erklären. Vor Gericht. Du kannst dir denken, daß ich es vermeiden wollte, solange ich konnte. Aber nun tue ich es.«
Die drei Menschen vor ihr rührten sich nicht. Die Gesichter der Erwachsenen waren verstört oder verzerrt vor Schreck. In dem Gesicht des Jungen zuckte es. Er fragte atemlos: »Ist das auch wirklich wahr, Mami?«
»Das ist wirklich wahr, Heinz.«
»Aber … aber … aber wer ist dann mein Vater, mein wirklicher Vater?«
Eine Sekunde verstrich, zwei Sekunden verstrichen, drei Sekunden verstrichen. Heinz’ Blick irrte hin und her.
»Wer, Mami, wer?«
»Kannst du es dir nicht denken?«
Der Junge stammelte: »Der … der Onkel Martin?«
Valerie nickte.
Heinz lief zu Landau. Er atmete schnell, in seinem Gesicht begann sich eine unendliche Glückseligkeit zu verbreiten.
»Wirklich? Wirklich, Onkel Martin?«
Das ist die größte Infamie, die man sich denken kann, dachte Landau. Er zitterte vor Wut und Schwäche, hin und her gerissen zwischen grenzenlosem Zorn, aber auch grenzenlosem Mitleid, als er diese feuchten, bittenden, fragenden Kinderaugen sah. Die allergrößte Infamie von der Welt! Wenigstens noch einmal reden mit mir hätte Valerie müssen vorher, mich fragen, ob ich auch einverstanden bin. Herrgott, was wird Tilly sagen, entsetzlich. Und wenn Valerie jetzt diesen Prozeß beginnt … Furchtbar, ganz
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