Und Jimmy ging zum Regenbogen
der Hand über die Augen. Leise sagte sie: »Sind das Zeiten, lieber Gott, sind das schreckliche Zeiten. Der Hitler, dieser Hund! Und der gute gnädige Herr so weit weg …«
Mit einem Stöhnen wandte Martin Landau sich plötzlich ab.
»Was hast du?« fragte Valerie.
Er antwortete nicht.
»Martin, was ist?«
Stoßweise und schwer verständlich kamen seine Worte: »Und ich in der Partei … Und die Tilly … Ich … Jetzt trau
ich
mich nicht mehr nach Hause!«
20
Ottilie Landaus Stimme klang schrill vor Empörung: »Einmal läßt man dich aus den Augen, schon stellst du so etwas an! Was hast du dir dabei gedacht? In welch eine Geschichte willst du dich denn da einlassen? Martin, bist du noch normal?«
Fast eineinhalb Stunden hatten Martin Landau und Valerie Steinfeld benötigt, um die Gloriettegasse zu erreichen.
In der großen
Diele
der 1892 erbauten Villa, die immer noch in dem dunklen, massigen Stil der Vor-Jahrhundertwende eingerichtet war – genau, ganz genau wie zu Lebzeiten der Eltern –, hatte Valerie dann erzählt, weshalb sie so spät kamen. Tilly war elegant, aber nach einer Mode von vorgestern gekleidet. Sie hatte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar, ein schmales Gesicht, ausdrucksvolle dunkle Augen, eine etwas zu groß geratene, etwas zu spitze Nase und einen kleinen, sehr schmallippigen Mund. Heftiger und heftiger bewegt war sie unter dem großen Bild einer architektonisch getreuen Stadtansicht Wiens im Jahre 1758, vom Belvedere aus gesehen, hin und her geschritten.
Hatte schweigend gelauscht, die Tilly, war, nach Ende des Berichts, mit verschränkten Armen unter dem Gemälde stehengeblieben und erst nach einer kurzen Weile über ihren Bruder hergefallen, der beklommen und hilflos wie immer auf einem mit Leder überzogenen, hochlehnigen Stuhl hockte.
»… wenn Valerie sich mit den Nazis einlassen will – bitte, das ist ihre Sache! Es ist ihr Sohn. Sie muß wissen, was sie tut!«
»Ich weiß es auch«, rief Valerie erregt, weil Ottilie von ihr wie von einer nicht Anwesenden, in der dritten Person, sprach.
Tilly beachtete die Unterbrechung nicht.
»Aber ein Mann wie du? Ein Mann, der schon Angst hat, wenn es morgens um sieben läutet? Ja, kennst du denn überhaupt die Nazis wirklich, diese Saubande? Weißt du, was die mit dir machen?« Tilly lief wieder in der Diele auf und ab. »Ich bin wahrhaftig eine Anti-Nazi! Ich hasse dieses dreckige Pack! Aber«, fuhr sie fort, und ihre Stimme wurde plötzlich weich, »diesem Pack bist du doch nie gewachsen, nie im Leben, mein armer Martin! Wenn die dich bei einer einzigen Vernehmung scharf anfassen – und das werden sie, verlaß dich drauf! –, dann kippst du doch um, dann brichst du doch zusammen!«
»Ich werde nicht zusammenbrechen!« rief er trotzig und halbherzig, schrecklich halbherzig, die Schulter hochgezogen, den Kopf schief. »Ich muß Valerie jetzt helfen, das ist meine Pflicht! Sehr einfach, zu sagen, daß man die Nazis haßt – und nichts gegen die Nazis zu tun! Valerie ist immerhin unsere älteste Freundin, wir dürfen sie jetzt nicht im Stich lassen!« Er sah die älteste Freundin der Geschwister Landau an, als wollte er sagen: Da hast du es. Ich wußte ja, warum ich mich nicht nach Hause wagte.
»Valerie!« rief Tilly. »Valerie mit ihrem Wahnsinnsplan! Entschuldige, meine Liebe, aber niemals, hörst du, niemals kann das gutgehen, was du vorhast! Verbrecher sind die Nazis! Die größten Verbrecher der Geschichte! Mörder, Schweine, Schufte, Lumpen – aber eines sind sie nicht:
dumm!
Dumm sind die nicht! Und du, eine Frau allein, willst es mit dieser Brut aufnehmen?«
»Ja«, sagte Valerie.
»Dann wirst du Unglück bringen über dich und Heinz und alle, die da mitmachen!« rief Martins Schwester leidenschaftlich. »Unglück, Unglück, ich weiß es genau! Wie wird es enden? Was erwartet euch? Gefängnis, Zuchthaus, KZ , der Galgen …«
»Galgen …«, stammelte ihr Bruder.
»Jawohl, vielleicht sogar der Galgen! Kennst du diese Pest? Weißt du, wie sie so etwas bestrafen, wenn sie euch erst einmal der Lüge überführt haben? Es tut mir leid, Valerie. Aber ich nehme nichts zurück, kein Wort. Ich bin verantwortlich für Martin, unserer Mutter habe ich versprochen, daß ich ihn beschütze, immer. Du kennst ihn. Du weißt, wie er ist.« Nun sprach sie, als sei ihr Bruder abwesend. »Weltfremd, hilflos ist er. Und du? Du nimmst keine Rücksicht darauf! Nicht die geringste Rücksicht nimmst du! Du reißt
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