Und Jimmy ging zum Regenbogen
wieder, die weiße, grenzenlose Wüstenei des Todes …
Manuel sah starr geradeaus, als er sagte: »Irene …«
»Ja?« Auch sie sah nach vorne.
»Ich weiß nicht, was das jetzt wieder zu bedeuten hat, was uns nun bevorsteht. Aber einmal muß das alles doch ein Ende haben, eine Lösung.«
»Ja.«
»Da ist auch noch Nora Hill. Sie will mich um etwas bitten, ich weiß nicht, worum. Ob ich ihren Wunsch erfüllen kann, hängt nun wieder davon ab, was Bianca Barry erzählt, was wir tun müssen danach … mit diesem Mann in Fischamend … was da geschieht … Aber wir werden schon Glück haben … wir haben doch schließlich immer noch Glück gehabt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Irene, »ja.«
Er umkreiste ein kleineres Rondell, von dem sternförmig Alleen in alle Richtungen strebten. Der Wagen glitt an einer weißgestrichenen Bedürfnisanstalt vorüber. Manuel fuhr den Weg, den er, mit Irene am Steuer, schon einmal gefahren war. Seltsam, dachte er, daß ich ihn mir gemerkt habe.
Hier draußen war kein Mensch mehr zu sehen.
»Und wenn es soweit sein wird, daß wir alles wissen, daß wir anfangen könnten, alles zu vergessen …«
»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie.
»Nein«, sagte Manuel, »ich auch nicht.« Er schwieg eine Weile. »Aber da es uns doch beiden geschehen ist«, sagte er dann, »da uns alles, was geschehen ist und geschieht, beide betrifft, würdest du, wenn es vorüber ist … würdest du daran denken können, meine Frau zu werden?«
Sie antwortete nicht.
»Bitte, Irene! Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Ich möchte dann, am Ende, mit dir Wien verlassen und in meiner Heimat mit dir leben …«
Immer noch schwieg Irene.
Plötzlich erhellte Sonnenschein die Schneewüste.
»Irene«, sagte Manuel, während er in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 einbog, »bitte, Irene, antworte mir. Und wenn du nein sagen mußt. Und wenn du nicht meine Frau werden willst. Und wenn du nicht mit mir kommen willst. Bitte, Irene. Warum sprichst du nicht?«
Erstickt antwortete sie: »Ich kann nicht …«
Er sah schnell zu ihr hinüber und bemerkte, daß sie weinte.
»Irene! Was hast du?«
»Nichts«, sagte sie mühsam. »Gar nichts. Ich bin nur plötzlich so glücklich … trotz allem … obwohl wir nicht wissen, was uns erwartet … Ich bin so glücklich, daß du mich gefragt hast …«
Manuel trat hart auf die Bremse.
Der Wagen glitt zur Seite. Er hob den Gang aus dem Getriebe und wandte sich ihr zu.
»Das heißt …«
»Das heißt ja«, flüsterte Irene. »Ja, ja, ja!«
Manuel lächelte glücklich.
Er legte die Arme um sie. Ihre Lippen berührten sich. Und in der Süße dieses Kusses versanken Ungewißheit und Furcht, Trauer und Schmerz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für sie beide.
81
Die Mündung des Gewehrs befand sich genau über dem goldenen Buchstaben u in dem Wort VOLUPTAS .
Das Gewehr war eine amerikanische ›Springfield‹, Modell 03, Kaliber 7.62 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter, Gewehrlänge 1250 Millimeter. Es besaß ein Magazin mit zehn Schuß und ein aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog die ›Springfield‹ nur 4,3 Kilogramm.
David Parker trug wieder seinen rostbraunen Dufflecoat und schwere Schuhe. Er war so gekleidet wie am Nachmittag des 16. Januar, als er, aus der Luke einer nahen Bedürfnisanstalt, Alphonse Louis Clairon erschoß, der genau da gestanden hatte, wo nun der einundvierzig Jahre alte David Parker stand, nämlich auf einem Hügel hinter dem mannshohen grauen Marmorquader des Grabes der Familie Reitzenstein, das, zwischen tief eingeschneiten Büschen und Hecken, in der Abteilung L 73 lag. Über dem mächtigen Stein gab es einen Sockel, und auf diesem kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein menschengroßer grauer Marmorengel, welcher weinte. Die Hände hielt er vor das Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sockel. In die Vorderseite des Sockels waren in Großbuchstaben, schwer vergoldet, diese Worte eingeschlagen worden:
EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS
Das geschürzte Gewand des Engels ließ unter dem abgewinkelten linken Bein eine dreieckige Öffnung entstehen. David Parker, groß, mit breitem Unterkiefer, viereckigem Gesicht, Sommersprossen und einer kurzen, wulstigen Narbe, welche ihm, unter dem blonden, zu einer Igelfrisur gestutzten Haar über die Stirn lief, hatte jene Öffnung von Schnee gesäubert, wie einst Louis Alphonse
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