Und nie sollst du vergessen sein
frostigen und eisigen Winter an.
Frostig und eisig waren auch die beiden Worte, mit denen sie die Beziehung zu ihrer Mutter am liebsten beschrieb. Selbst ein Einser-Schnitt an der Landespolizeischule konnte ihre Mutter nicht davon überzeugen, dass Emma für sich das Richtige entschieden hatte.
âEine Frau gehört einfach nicht zur Polizei, erst recht nicht zur Mordkommissionâ, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter. Und gerade deshalb wollte sie es ihr zeigen und gleichzeitig das Andenken ihres GroÃvaters in Ehren halten. Er wäre wenigstens stolz auf mich, dachte Emma und erinnerte sich an die vergangenen vier Jahre zurück, in denen sie sich ins Studium und die praktische Ausbildung gestürzt, jeden angebotenen Lehrgang belegt und verschiedene Zusatzqualifikationen â von psychologischer Beratung bis hin zu einem Seminar zur Profilerstellung von Vergewaltigern â absolviert hatte, um dann kurz vor ihrem 29. Geburtstag endlich da zu sein, wo sie immer hin wollte. Noch heute dachte sie mit einem breiten Grinsen daran, wie Ausbildungsleiter Manfred Engel beim festlichen Empfang ihr als jahrgangsjüngster und gleichzeitig bester Frau in einer von Männern dominierten Ausbildungsklasse die Urkunde zur Kriminalkommissarin überreicht hatte. So langsam näherte sie sich der Abzweigung nach Nöggenschwiel. Fern am Horizont, Richtung Schweiz, bauten sich die ersten dunklen Wolken auf, die unmissverständlich Regen ankündigten, während Emma die KreisstraÃe entlang in den abgelegenen Ort fuhr.
Vorbei am FuÃballplatz und der putzig anmutenden Tennisanlage führte sie der Weg zum Ortsmittelpunkt, dem kleinen Gemischtwarenladen, den jeder hier nur das âLädeleâ nannte. Dort parkte sie ihren Wagen auf dem Kirchvorplatz, als die Uhr der St.- Stephans-Kirche gerade ein Mal schlug, und betrat den Laden. Wie sie auf ihrem Handy lesen konnte, war es kurz nach halb sechs und die früh einsetzende Nacht hatte fast das gesamte Licht des Tages geschluckt.
Da Emma nicht genau wusste, worauf sie Hunger hatte, wollte sie erst einmal die kurzen Gänge durchstreifen in der Hoffnung, hier eine Inspiration zu finden. So ging sie vorbei an der Gemüse- und Obstauslage in Richtung Kühltheke ans hintere Ende des kleinen Geschäfts. Auch wenn das argentinische Rückensteak mehr als appetitlich aussah, so hatte Emma nach der langen Fahrt keine Lust, sich jetzt noch an den Herd zu stellen und zu kochen.
Also doch lieber Dosenravioli, überlegte sie, um im nächsten Augenblick diesen Gedanken gleich wieder zu verwerfen, da sie sich nach unzähligen Fernsehberichten über die Qualität solcher Lebensmittel geschworen hatte, nur im äuÃersten Notfall auf Fertigprodukte und Tütensuppen zurückzugreifen. Und das hier war eindeutig kein Notfall.
So entschied sie sich für den abgepackten, aber im Hochschwarzwald hergestellten Kochschinken, Tomaten, Büffel-Mozzarella, einen fettarmen Joghurt, einen Liter Milch und eine Tüte Gummibärchen und ging damit an die Kasse.
âSie waren jetzt wirklich meine Rettung, sonst hätte ich noch nach Waldshut fahren müssenâ, sagte Emma zu der Frau hinter der Theke, die sie mit groÃen Augen betrachtete.
âJa, wir haben seit Kurzem freitags immer bis um 19 Uhr geöffnet. Aber ... irgendwo her kenne ich Sie?â, fragte die Frau und starrte Emma noch intensiver an.
âEmma? Emma Hansen, richtig? Das gibtâs doch nicht! Was machst du denn hier?â, begrüÃte Maria Reisinger Emma so stürmisch, dass sie dabei fast den vor der Theke aufgestellten Warenkorb mit den Sonderangeboten umgerissen hätte. Eine Kundin, die gerade ein geschnittenes Bauernbrot bestellen wollte, schaute der Lädele-Verkäuferin etwas irritiert hinterher, als diese Emma in den Arm nahm und fest an sich drückte.
âWie geht es dir? Gut siehst du aus.â
âDanke. Das ist nett. Sie aber auch, Frau Reisinger. Ich wusste gar nicht, dass Sie jetzt hier im Lädele arbeitenâ, bemerkte Emma leicht erstaunt. Als enge Vertraute der Familie ihrer Ferienfreundin Charlotte hatte Emma sie des Ãfteren bei den Nägeles angetroffen. Von diesen Treffen wusste sie auch, dass Maria Reisinger damals noch als Pharmareferentin tätig gewesen war.
Emma schaute Maria Reisinger mit anerkennender Bewunderung an. Maria Reisinger war Ende fünfzig und ihre Haare waren nicht nur
Weitere Kostenlose Bücher