Und sie wunderten sich sehr
es unausgesprochen. Jetzt hofft sie, dass sich das Gesuchte noch unter einer Bank findet. Ich schalte noch einmal alle Lichter an und suche mit ihr. Nichts! Sie putzt sich die Nase und sagt leise: »Es war ein Geschenk.« Wie ärgerlich!
Ich versichere ihr: Wenn sie hier verloren wurde, wird sie mit Sicherheit abgegeben. So verschwindet die elegante Dame mit kurzem Gruß.
Nach dem Morgengottesdienst am ersten Weihnachtstag steuert sie wieder auf mich zu. Ob ich schon etwas gehört hätte? Ob jemand etwas abgegeben hätte? Ich muss sie enttäuschen. »Es war wirklich ein sehr teures Geschenk …«
Wie teuer dieses Geschenk gewesen sein muss, ahne ich, als ich draußen an allen Türen, an den Laternenpfählen sowie in einem Schaufenster ihre Verlustanzeige lese »Kette verloren. Finderlohn: 1700 Euro.« Es gibt nicht wenige in unserer Gemeinde, denen ich solchen Finderlohn wünschen würde! Die handgeschriebenen Suchanzeigen verblassen »zwischen den Jahren«. Manche Zettel reißt der Wind ab. Der Schnee tut sein Übriges. Die Frau habe ich nicht wieder gesehen.
Der Verlust des Geschenkes und der des materiellen Wertes ist nicht das, was mich berührt. Wer aber weiß, was sie neben dem Wert tatsächlich verloren hat? Wer weiß, mit wie vielen anderen Menschen sie in dieser Nacht geweint hat, wie verschieden das Maß der Traurigkeit und der Grund der Tränen auch sind. Der Klartext dieser und aller folgenden Nächte ist, dass die Wunscherfüllung nach eigenen Maßstäben nun mal ausbleibt. Keine Stimmung, ob |149| nun künstlich erzeugt oder einfach entstanden, kann darüber hinwegschummeln. Aber das ist nicht der Realismus des Weihnachtsfestes. Realismus ist kein anderes Wort für Desillusionierung. Real ist, was an der Wirklichkeit, wie wir sie erleben, tatsächlich wahrhaftig ist, also verlässlich und tragend, indem es immer wieder, vielleicht Jahr für Jahr neu, geprüft wird und sich gegebenenfalls bewährt.
Ob sich Weihnachten bewährt? Das zeigt sich für mich durchs ganze Jahr – und zwar in den Geschichten von hilflosen Helfern, von Ungeretteten und Ungeborgenen, die tatsächlich selbst zu Helfern oder Rettern werden können. Natürlich kann man den Heilandsglanz, den ich daran erkenne, für Kitsch oder für märchenhaft-kindlich halten.
Man kann sich auch auf den Standpunkt stellen, zwischen einem Heiland, einem Gott in Windeln, und einer Zahnfee verschwimmen ohnehin die Unterschiede: Denn an beide müsse man ja glauben, weil deren Existenz nicht gesichert sei.
Weihnachtsverächter, gebildet oder weniger gebildet, werfen diese Frage in allen möglichen und unmöglichen Tonlagen gerade in einer Stadt wie Berlin immer wieder auf. Ich höre in diesem Weihnachts- und Religionsressentiment viele Untertöne. Resignation, Institutionen- oder Kirchenkritik, ernsthaftes Suchen und unbeantwortete Fragen; auch enttäuschende Bruchstellen in der eigenen Biografie.
Einer der Enttäuschten steht mir klar vor Augen: »Mein Vater konnte seit seinen Tagen in den Schützengräben der letzten Kriegstage nicht mehr ›Christ ist erschienen, um uns zu versühnen‹ singen.« So sagt es heute der Sohn des Kriegsheimkehrers von damals. Der Heimkehrer selbst ist längst gestorben, sein Sohn dieser Tage schon an die 60 Jahre.
Als das Kriegskind, das er im Grunde geblieben ist, möchte er doch noch einmal klären, warum Gott seit Jahrzehnten in seiner Familie rollenlos, einfach gar nicht mehr da war. So richtig fertig wird er damit nicht. Am Ende der |150| Weihnachtstage meint er: »Die Seele kann nicht von vorn anfangen mit den Weihnachtsempfindungen.«
Ist es dem Jungen von damals und reifen Mann von heute tatsächlich so unvorstellbar, dass ein neuer Blick auf ein altes Fest möglich wird, vielleicht sogar durch die Geschichten des Verlorenen hindurch? Der Sohn, wie bewusst oder unbewusst auch immer, trägt die Schmerzgeschichte des Vaters in sich. Aus keiner Nacht lässt sich dieser Schmerz wegretuschieren, erst recht nicht aus der Nacht der Nächte. Aber jene Nacht der Nächte schreibt ihre Geschichte fort in den Geschichten der Stadt.
Von ihnen habe ich erzählt, nicht um Gewissheiten zu verwalten, sondern um, ähnlich einem Sammler von seltenen Fundstücken, Hoffnungszeichen zu sammeln, kleine Lichter, die nicht selten Anlass geben zur Verwunderung.
Im Rückblick lässt sich bestimmt sagen: Es gibt temperamentvollere Dramen von Glück, Schuld, Verlust und Neugewinn. Dramen, die vielleicht nach Meinung einiger
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