Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Mundschutz unters Kinn, zog die Plastikkapuze vom Kopf und atmete mehrmals tief ein und aus. Er bückte sich, um seine Tasche entgegenzunehmen, die ihm von unten heraufgereicht wurde, undes dauerte einen weiteren Moment, bis er wieder hochkam. »Ich hätte Kinderarzt werden können«, sagte er zu Van Leeuwen. »Warum bin ich nicht Kinderarzt geworden?«
»Weil Sie Kinder nicht aufschneiden können«, sagte der Commissaris.
»Was für ein schöner Tag«, fuhr der Arzt unbeirrt fort. »Ich könnte die Kinder in meiner Praxis empfangen, und sie könnten mir sagen, wo es ihnen wehtut, und ich würde ihnen etwas Leichtes verschreiben, das ihnen hilft, gesund zu werden. Sie würden vielleicht ein bisschen herumstottern oder lispeln, und der eine oder andere könnte etwas Wasser und Seife vertragen, aber gegen das da unten ...«
Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, Mijnheer, die Toten stottern nicht und lispeln nicht. Sie drücken sich ganz klar und eindeutig aus, und ich verstehe alles, was sie mir sagen wollen. Ich will es bloß nicht mehr hören. An manchen Tagen will ich es einfach nicht mehr hören.«
» Ich will es hören«, sagte Van Leeuwen.
Der Pathologe nickte. Der Mundschutz unter seinem Kinn flatterte im Wind, und die kleinen Fältchen um seine Augen schienen mehr geworden zu sein in der kurzen Zeit, die er unter Deck verbracht hatte. »Womit soll ich anfangen?«
»Die Tatwaffe.«
»Ein dünner, scharfer Gegenstand. Wahrscheinlich ein Messer mit einer kurzen Klinge.«
»Ein Teppichmesser?«
»Oder ein Instrument zum Häuten von Tieren. Ich liefere Ihnen eine genaue Beschreibung der Wunden; den Kopf müssen Sie sich dann zerbrechen.«
»Die ganzen Wunden stammen von einem einzigen Messer?« »Allem Anschein nach.«
»Und wann wurde die Tat begangen? Wie lange ist das Opfer schon tot?«
»Zwei Tage vermutlich, plus minus ein paar Stunden. Nach einer ausführlicheren Untersuchung kann ich den Zeitpunkt präziserbestimmen. Es ist nur etwas an den Wunden, an der Art, wie sie zugefügt wurden ... Ich hätte doch Kinderarzt werden sollen.«
»Was ist mit den Wunden?«, fragte Van Leeuwen geduldig.
Der Pathologe sagte: »Es ist der Abstand, der dazwischenliegt – der zeitliche Abstand ... Ich muss mir das einfach genauer anschauen.« Er schwenkte seine Tasche zu einem müden Gruß und wandte sich dem Bootssteg zu. »Auf Wiedersehen, Commissaris. Ist das nicht ein schöner Tag?«
Es gibt keine schönen Tage mehr , dachte der Commissaris. Er sah dem Doktor nach, wie er über den Bootssteg ging und dabei vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Dann rief er: »Was ist mit den Wunden, Doktor?«
Der Doktor drehte sich um. »Es sieht aus, als wäre er zweimal ermordet worden. Mit demselben Messer, aber nicht zur selben Zeit.«
3
Es gab keine schönen Tage mehr, aber dieser Julimorgen konnte nicht schöner sein. Simonewetter, dachte Van Leeuwen und stellte sich vor, wie seine Frau gerade aufwachte und durch das große Fenster in ihrem Zimmer den strahlenden Himmel und die Sonne sah und wie sie spürte, dass es ein schöner Tag war.
Der Commissaris fuhr durch den Tunnel zurück in die Stadt. Es war noch wenig Verkehr, aber ein paar Lastwagen lieferten sich ein Rennen mit den städtischen Bussen, und ihre Abgaswolken verdunkelten die Tunnelbeleuchtung, bis nur noch ein trüber Schein von vorbeifliegendem Weiß übrig blieb. Auf der anderen Seite des alten Hafens schwang sich die Straße aus der Röhre unter dem kühnen Schiffsbug des NEMO hervor, dessen schilffarbene Wände sich in mattem Glanz aus dem Wasser erhoben. Der Commissaris fuhr in seinem leise schnurrenden Alfa durch die erwachende Stadt und dachte an den toten Mann im Kielraum des Hausboots, der heute nicht mehr erwacht war und auch nie wieder erwachen würde. Esgab jetzt ein Band zwischen ihnen. Das Band war da, und es blieb da, bis der Commissaris den Mörder gefunden hatte.
Jenseits der Brücke über die Singelgracht steuerte Van Leeuwen den Alfa in das Europarking gegenüber vom Präsidium und stellte ihn an seinen Platz auf dem obersten Deck, das für die Polizei reserviert war. Er legte die Taschenlampe ins Handschuhfach und den Trenchcoat auf den Beifahrersitz. Er fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und ging über das Gelände der Tankstelle zum Eingang des Hoofdbureaus van Politie auf der anderen Seite der Elandsgracht.
Das Wasser in der Lijnbaansgracht stand tief, und das Gras am Ufer hatte eine gelbliche Farbe
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