Die Mächte des Feuers
»Schon wenn einer ihn [den Drachen] sieht, stürzt er zu Boden. (…) Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wie wohl geschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer kann es wagen, zwischen seine Zähne zu greifen? (…) Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinander gefügt. (…) Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist die lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. (…) Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoss und Speer. (…) Er ist ein G e schöpf ohne Furcht.«
Die Bibel, Hiob 41
» Draco ist der groesten tier ainz, daz dia werlt hot. Von dem mag der groz helfant nicht sicher gesein.«
aus: Buch der Natur, Conrad von Megenberg (1309-1374)
»Daher heißt es, in der Walburgisnacht fliege der Drache um und trage seinen Gläubigen Butter und Schmalz aus fremden Häusern zu. Was er nicht weiter schleppen kann, speit er auf die Schwindgruben; die gel b weißen Algen in Tellergröße, die man auf dem Düngerhaufen zuweilen erblickt, heißen daher Drachenschmalz.«
sinngemäß übersetzt aus: Fiber octo auestionum (gedruckt bei Joh . Hasselberger 1515) von Abt Trithemius
»Ein Drache ist schön anzusehen. Einen habe ich besessen; er war a n derthalb Fuß lang. Ich habe ihn Ambrosius Fabianus geschenkt. Er ha t te ungefähr die Farbe eines Krokodils.«
aus: De animantibus subterraneis von Georgius Agricola (1494-1555), Humanist und Gelehrter
»Dieser Namen Trach kommt bei den Griechen von dem scharfen Gesicht her und wird oft von den Schlangen in gemein verstanden. Inso n derheit aber soll man diejenigen Schlangen, so groß und schwer von Leib all an der Größe halb übertretten , Trachen heißen.«
aus: Thierbuch von Conrad Gessner (1516-1656)
» Wolfeszahn und Kamm des Drachen«
aus: Macbeth von William Shakespeare (1564-1616)
»Fürth lebt, solange der Drache stirbt.«
Spruch der Bewohner von Fürth im Wald (Bayern)
Prolog
1. Januar 1925, Korumdie-Gebiet, Zarenreich Russland, Grenze zu China
»Wann der Herr wohl zurückkehrt?«, fragte Xing mit Wehmut in der Stimme. Sie strich die Oberfläche der dicken, aufgeschüttelten Daunendecke glatt und trat ans Fenster.
Gigantische Berg- und Eislandschaften breiteten sich vor ihr aus. Die wie an einer Schnur aufgefädelten, schroffen Gipfel schwangen sich allesamt über 6.000 Meter hoch. In Xings Augen reckten sie sich abweisend und stolz den Wolken entgegen und ließen es geschehen, dass die Gespinste sie hin und wieder einhüllten und verbargen. Wenn die Berge genug davon hatten, schien es ihr, als zerschnitten sie die Wolken mit ihren scharfkantigen, steilen Hängen, um sodann wieder aufzutauchen. Xing bewunderte die Berge, die unbezwingbar für die Menschheit waren und sich allein ihrem Herrn unterworfen hatten.
Unterhalb des höchsten Gipfels, auf der Ostseite des Korumdie, befand sich das höchste Schlafzimmer der Welt, mit dem atemberaubendsten Ausblick. Es maß zehn mal zehn Meter; rote und schwarze Teppiche verkleideten die nackten Felswände, und an der fünf Meter hohen Decke liefen geschwungene dunkelrote Stoffbahnen entlang. Tagsüber fiel das Sonnenlicht durch die breite Fensterfront und ließ das Rot magmahaft schimmern; sobald es dunkler wurde, spendeten zwei elektrisch betriebene Kristallkronleuchter Helligkeit. An den eingezogenen, mit Blattgold versehenen Säulen im Raum waren Petroleumlämpchen angebracht, deren Schein sich auf dem Edelmetall warm und sanft spiegelte.
Dies war nur eines von vier Dutzend Zimmern des himmlischen Palastes; sieben davon waren ständig beheizt.
»Er ist kein Herr«, sagte Maxim missmutig und fuhr mit der Hand über die Decke, um eine Delle zu hinterlassen und die verlangte Perfektion zu zerstören. »Ein Kerkermeister, mehr ist er nicht. Und ich verstehe nicht, wozu er dieses kleine Bett benötigt.«
Xing, die ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten und unter die Pelzkappe gesteckt hatte, eilte sofort herbei und strich den von Maxim angerichteten Makel wieder weg; die Bewegung ihrer Hand war exakt und liebevoll. »Hör auf! Du machst ihn nur wütend, und ich bekomme es dann wieder zu spüren.« Sie bewegte sich stets elegant, obwohl sie zwei lange, schwere
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