Und was, wenn ich mitkomme?
Abschiedsüberraschung noch zwei dicke Zigarren. Die werden wir bei Whiskey und Sherry in der Bar rauchen.
Eva sitzt auf einem der Barhocker und tuschelt über den Tresen hinweg mit Elena wie mit einer alten Freundin, obwohl keine der beiden die Sprache der anderen beherrscht. Eva trägt ihr neues Kleid, und ich kann kaum den Blick von ihr wenden. Sie ist so lebendig, so glücklich und so besonders: meine Frau!
60. TAG SANTIAGO — ZUHAUSE
Aus Pits Tagebuch:
Die letzten drei Stunden in Santiago haben wir auf dem Platz vor der Kathedrale gesessen, ohne dass uns die Zeit lang geworden wäre, Momente der Gelassenheit und des Friedens. Vielleicht werden wir nie wieder hierher zurückkommen. Aber die Bilder dieser Stadt und die Erinnerungen vom Camino werden wir hoffentlich niemals vergessen.
Der Weg hat sich gelohnt. Zwei Monate losgelöst vom Alltag und in einer anderen Welt... weg von allen Verpflichtungen... sich nur um das Elementarste kümmern: essen, trinken, schlafen, Körperpflege. Die gelben Pfeile führten uns wie festgelegte Gleise die Wege, auf denen wir uns so selbstverständlich bewegt haben. Es gab kaum Entscheidungen zu treffen, sodass Freiraum blieb für die Seele. Was hat sich nicht alles in uns selbst und in unserer Beziehung bewegt? Ich hoffe , dass die Erfahrungen der zurückliegenden Monate bleibende Wirkung haben werden.
Ich bin froh und dankbar, dass Eva mich mitgenommen hat. Danke dafür, mein liebes Wölkchen!
Wir besuchen noch einmal die Pilgermesse um zwölf Uhr, um die Nonne mit der schönen Stimme zu hören. Mit ihr zusammen singen wir »Laudate omnes gentes«, ein erhebender Moment! Und dann wird noch der »Weihraucheimer« durch das Kirchenschiff geschleudert, perfekt!
Im Wandertempo geht es ein letztes Mal durch die Stadt zum Busbahnhof. Auf der Fahrt zum Flughafen sehen wir rechts das Denkmal auf dem Monte de Gozo liegen, ein denkwürdiger Moment. Und auf dem Flughafen von Santiago trinken wir unseren letzten café con leche, ein trauriger Moment.
Aber alle Momente zusammen genommen ergeben Dankbarkeit: Danke, du liebender Gott, dass du Eva und mir diese gemeinsame Zeit geschenkt hast!
Aus Evas Tagebuch:
Heute Morgen gab es einen herzlichen, fast familiären Abschied von Antonio und Elena. Pit und ich haben noch lange auf dem Platz vor der Kathedrale gesessen und dann noch ein letztes Mal die Messe besucht. Diesmal sang wieder die Nonne mit der Engelstimme: »Laudate omnes gentes«. Es ist wie eine Verheißung und wie Frieden, so wie der vorweggenommene Frieden, den wir an meinem Geburtstag in der kleinen Kirche auf dem Weg nach Güemes empfunden haben, ohne zu wissen, was noch auf uns zukommt, was noch zu ertragen und zu überwinden war. Dass gerade dieses Lied angestimmt wird, erscheint mir wie ein Fingerzeig von oben. Ich bin sehr berührt und ergriffen und dankbar.
In voller Pilgermontur geht es in altvertrautem Wanderschritt ein letztes Mal durch die Altstadt Richtung Estación Autobus. Jetzt sitzen wir auf dem Flughafen in der Abflughalle, haben unseren letzten café con leche getrunken — den ersten gab es in Pasaia — , spielen: Was fällt dir zum Stichwort... ein?, knuspern gesalzene Erdnüsse und schwanken in Gedanken zwischen 1000 Bildern vom Camino und der Erwartung auf zu Hause: Freude, Wehmut und Anspannung gleichzeitig. Auch jetzt noch liegen die Emotionen dicht beieinander, und vielleicht wird sich daran auch nichts ändern, sofern wir offen bleiben und bereit, sie wahrzunehmen und zuzulassen.
Unsere Erinnerungen steigen mit uns über die Wolken. Es dauert nur eine Stunde bis nach Mallorca, wo wir in das Flugzeug nach Paderborn umsteigen. Im Dunkeln erreichen wir in Deutschland den Flughafen. Wir warten auf unser Gepäck, bloß zwei verstaubte und an den Ecken abgestoßene Rucksäcke. Ich trete am Förderband von einem Fuß auf den anderen. Mir geht es fast nicht schnell genug, denn plötzlich entdecke ich hinter einer Trennscheibe unsere Kinder, unseren Sohn, den wir gebeten haben, uns vom Flughafen abzuholen, und unsere Tochter, die er als Überraschung mitgebracht hat. Sie presst ihre Handflächen gegen das Glas, und ich laufe zu ihr und lege meine Hände von meiner Seite gegen ihre.
Was werde ich sagen, wenn mich jemand nach den vergangenen zwei Monaten fragt? Wie lässt sich erklären, was passiert ist und was sich geändert hat? Wir haben keine Bilder, keine Fotos, die wir wie Beweise herumreichen könnten. Es gibt keine Momentaufnahmen, sondern
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