Und weg bist du (German Edition)
Schläfe zu streichen. »Du wirst ihn immer hier in dir tragen«, sagte sie und bewegte ihre Finger dann zu meinem Herzen. »Und hier.«
Nach einer Weile ließ sie mich mit meiner Trauer allein und ich blieb reglos in der düsteren Kapelle sitzen. Ihre letzten Worte hallten in meinem Kopf wider. Als ich den Blick zu dem dunklen Fenster hob, erkannte ich darin ganz schwach Jacks Spiegelbild. Ich stand auf, drehte mich um und konnte kaum glauben ihn dort zu sehen – ohne Verletzung auf der Stirn und ohne Leid in den Augen. Er lächelte mich sogar an.
»Nicht weinen, Jocey«, hörte ich ihn sagen, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten und sich sein Lächeln keinen Millimeter verzog. »Sie hat Recht. Ich werde immer bei dir sein, in deinem Kopf und deinem Herzen.«
Langsam kam ich wieder zu Bewusstsein und hörte Noah sprechen. Von seiner sanften Stimme hatte ich mich schon immer angezogen gefühlt und darum ließ ich es zu, dass sie mich zurückholte.
»Ich kann es mir nur einfach nicht vorstellen. Ich habe doch die ganze Zeit mit Jack Kontakt gehabt.«
»Aber nur über den Computer, stimmt’s?«, hakte Sam Lessing nach. »Persönlich hast du ihn in der Zeit nie gesehen, oder?«
»Nein.« Noah klang plötzlich ungewohnt verunsichert.
»Obwohl eure Wohnorte gar nicht so weit auseinanderlagen. Wolltest du ihn nicht sehen?«
»Doch. Wir hatten es immer vorgehabt. Zuerst hatte ich vorgeschlagen ihn und Jocelyn bei ihrer Pflegefamilie zu besuchen. Doch Jack meinte, das wäre Jocelyn nicht recht. Deshalb haben wir geplant, dass er mich besuchen kommt, aber dann ist ständig etwas dazwischengekommen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Probleme mit dem Auto, ein überraschender Familienausflug … und dann diese Halsentzündung.« In Noahs Stimme schwang jetzt ein verbitterter Unterton mit. »Aber Jack hat mir Fotos von sich gemailt.«
»Es gibt genug Computerprogramme, mit denen man Menschen auf Fotos altern lassen kann. Sie kannte sich gut mit digitaler Bildbearbeitung aus. Und Jack war die Freundschaft mit dir sehr wichtig. Er hat alles getan, damit euer Online-Kontakt nicht abbrach.«
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr! Sprichst du jetzt über Jocelyn oder über Jack?«
»Über beide, weil sie ein und dieselbe Person sind.«
»Das ist absurd!«
»Ich erkläre es dir. Jack ist, ein Jahr nachdem er und Jocelyn Watertown verlassen haben, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie waren beide gerade vierzehn geworden. In der Folge hat Jocelyn, die diesen schrecklichen Verlust nicht verarbeiten konnte, die Erinnerung an seinen Tod ausgelöscht und seine Persönlichkeit mit verinnerlicht. Wie bei einer Persönlichkeitsspaltung. Da sie Zwillinge waren und sie und Jack sich zudem sehr nahestanden, fiel es ihr nicht schwer, seine Identität zusätzlich anzunehmen. So konnte sie ihn am Leben erhalten. Als Jack für uns gearbeitet hat, mag er es in Jocelyns Körper getan haben, aber sie hat nicht wahrgenommen, was er getan tat. Fast ist es so, als hätte sie ihm einen Teil ihres Gehirns überlassen, ohne etwas davon zu wissen. Genauso war Jacks Persönlichkeit nicht involviert, wenn Jocelyn mit ihren Dingen beschäftigt war, auch wenn sein Teil des Verstands immer wusste, was sie tat. In vielerlei Hinsicht kann man sagen, dass sich zwei getrennte Wesen einen Körper geteilt haben. Er war der Programmierer, sie die Grafikdesignerin. Auch wenn Jocelyn natürlich eigentlich beides war. Kaum vorstellbar, was für ein brillanter Geist dahinterstecken muss.«
»Wie hast du das herausgefunden?«
Sam Lessing zögerte. »Die private Detektei, durch die ich all unsere Leute überprüfen lasse, arbeitet sehr gründlich und ihr ist es gelungen, Jocelyns Therapieakte einzusehen.«
»Dazu hattet ihr kein Recht.«
»Warte – Jack wusste Bescheid.«
»Was?«
»Er begann seinem Therapeuten zu misstrauen und wollte wissen, was Dr. Candlar in seine Akte schrieb. Er hat sogar zugestimmt, dass wir sie uns besorgen. Insbesondere seit ich ihm eine große Zukunft in unserer Firma zugesichert habe.«
»Aber was ist mit Jocelyn, Sam? Sieh dir an, was mit ihr geschieht.«
Für eine Weile schwiegen beide und ich driftete wieder in die Dunkelheit ab, um nicht noch mehr hören zu müssen.
Ich stand vor dem Tattoostudio und versuchte all meinen Mut zusammenzunehmen. Als ich den Laden schließlich betrat, saß Beth hinter dem Tresen. Sie war überall tätowiert und gepierct und ihr rotes Haar war kurz geschoren wie bei einem Kerl.
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