Und weg bist du (German Edition)
Keuchend und schweißüberströmt öffnete ich die Augen. Noah tupfte die Wunde ab, die sich mitten auf dem Kreuz befand.
Dann hielt er ein winziges versiegeltes Päckchen hoch, das er mir aus der Haut gezogen hatte. Lessing nahm es Noah mit einem Taschentuch ab, wischte das Blut ab und öffnete es. Zum Vorschein kam ein Mikrochip. Er schob ihn in einen USB-Stick, den er Saulto reichte. Dieser ging damit zu dem Laptop, das auf der alten Kommode stand. Er steckte den Stick in den Rechner und blickte auf den Bildschirm. »Ja, wir haben sie!«
Mir wurde plötzlich schwindelig und ich versank in einen Dämmerzustand, in dem ich alles nur noch in Zeitlupe wahrnahm – die Spritze, die Saulto mir gegeben hatte, schien zu wirken. Ich war kurz davor, in die Bewusstlosigkeit abzudriften, als Sam Lessing sich neben mich hockte und mich erleichtert lächelnd ansah.
»Gute Arbeit, Jack. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet.«
siebenunddreißig
ERINNERUNGEN
Die Straße wand sich vor uns wie ein weißgraues Band. Der Mond hing am Himmel wie eine schiefe Kugel. Seit wir Seale House und Watertown verlassen hatten, war ein Jahr vergangen. Wir lebten bei unserer Mutter. Jack und ich hatten begonnen uns ein Leben in Vermont aufzubauen, doch nun hatten wir es von einem Moment auf den anderen aufgeben müssen. Wir waren nicht einmal mehr in unsere kleine Wohnung zurückgekehrt, um die wenigen Habseligkeiten zu holen, die wir besaßen.
Die Straße, auf der wir nun in einem Höllentempo entlangbrausten, schien von den Bergen verschluckt zu werden. Melody murmelte beim Fahren immer wieder unvollständige Sätze vor sich hin und gab bruchstückhaft abwechselnd ihrem Bedauern, ihren Rachegelüsten oder ihrem Schmerz Ausdruck. Hin und wieder lachte sie höhnisch auf, dann beweinte sie wieder Calvert, ihre erste Liebe – den einzigen Mann, der ihr je etwas bedeutet hatte.
Mein Bruder und ich saßen dicht nebeneinander. Mit unseren vierzehn Jahren hatten wir bereits viel zu viel von der Welt gesehen. Jack lehnte zusammengesunken an der Beifahrertür, die Wange am Fenster. Sein Atem ging flach und die Stirn war rot. Über der Braue zeichnete sich ein geschwollener, blutiger Fleck ab.
Der alte Pick-up bebte und ich wünschte mir sehnsüchtig, Jack möge aufwachen. Durch die gesprungene Windschutzscheibe, die vorhin bei dem Aufprall von Jacks Kopf zerborsten war, starrte ich auf den roten Rost, der die Motorhaube zerfraß und immer näher zu kommen schien. Während ich zwischen der erbärmlichen Melody und meinem schlafenden Bruder saß, lief mir plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Schlagartig wurde mir klar, dass das Rot auf der Haube nicht nur Rost war, sondern auch Blut. Das verbeulte Blech war gezeichnet von dem gewaltsamen Zusammenstoß, der Melodys geliebten Calvert und die Frau, die bei ihm war, getötet hatte.
Bei dem Gedanken an das, was erst eine Stunde zuvor geschehen war, begann ich zu zittern. Jack und ich hatten auf dem Parkplatz des Restaurants, in dem unsere Mutter arbeitete, auf sie gewartet. Als Melody herauskam, schluchzte und heulte sie wie ein Schlosshund. Jack versuchte mit ihr zu reden, um herauszufinden, was los war, während sie den Motor des Pick-ups startete. Im nächsten Moment traten ein Mann, von dem sie uns mitteilte, es sei Calvert, und eine dunkelhaarige Frau aus dem Restaurant und gingen Arm in Arm über den Parkplatz.
Melody ließ den Motor aufheulen, löste die Bremse und trat aufs Gaspedal. Erschrocken blickte das Paar auf und begann zu schreien. Melody schrie ebenfalls, während sie mit dem Pick-up auf das Paar zuraste und sie gegen die Mauer des Restaurants drückte. Ich wappnete mich für den Aufprall, Jack hingegen versuchte unsere Mutter zu stoppen. Sein Kopf knallte gegen die Windschutzscheibe und das Glas zerbarst.
Seitdem fuhr Melody eine nächtliche Verfolgungsjagd ohne Verfolger, heraus aus Vermont und über die Grenze nach New York. Mein Flehen, umzukehren und Jack in Bennington ins Krankenhaus zu bringen, blieb ungehört. Zu sehr war sie mit sich und ihren wirren Gedanken beschäftigt. Sie sprach davon, dass Calvert sie vor all den Jahren nie hätte an einer Raststätte zurücklassen dürfen, weil es ihr ganzes Leben ruiniert habe. Ihrer beider Leben wären wundervoll verlaufen, wenn er bei ihr geblieben wäre. Alles sei seine Schuld. Seinetwegen hätte sie es getan. Nachdem ich die Geschichte, wie Calvert sie sitzengelassen hatte, so oft gehört hatte, konnte ich es
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